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Ich wartete am kommenden Morgen Stunden vor seiner Haustür. Weder Leonie noch Tim kamen aus dem Mehrfamilienhaus, obwohl es Montagmorgen war und sie Schule hatten. Der Boden war gefroren und als mir so allmählich langweilig wurde, hatte ich angefangen, Schlittschuhlaufen mit mir selbst zu spielen. Mit den Stiefelletten mit abgelaufenem Profil ging das hervorragend.

Bis der Hausmeister kam, mit der Zunge schnalzte und die Eislaufbahn mit Streusalz ruinierte.

Blödmann.

Es musste gerade zum Beginn der zweiten Stunde läuten, als Noah endlich aus der Tür trat, mich sah und umgehend seufzte. Soviel zu einer netten Begrüßung. Doch ich war ihm nicht sauer. Wie könnte ich auch, bei der aufgeplatzten Lippe und den Schatten um seine Augen herum.

»Dein Vater?«, fragte ich beim Näherkommen leise und hob die Hand an sein Gesicht. Das war meine Schuld. Ich hatte das verursacht. Hatte ihm Leid zugefügt.

Noah ließ mich sogar noch näher kommen, hielt mit einer Hand den Gurt seiner Tasche fest und mit der anderen umfasste er bloß meinen anderen Unterarm. »Mama. Mein Handy gibt ein gutes Wurfgeschoss ab.«

Ich schloss die Augen und kämpfte die Tränen zurück.

Es war meine Schuld. Noah musste nur selten Prügel einstecken, wenn man von den emotionalen Schlägen absah. Wenn seine Eltern körperlich ausrasteten, hatte das meistens einen guten Grund. Trotz ihrer seltsamen und beschissenen Erziehungsmethoden waren sie keine Unmenschen. Sie versorgten ihre drei Kinder mit allem, was sie brauchten. Feierten Geburtstage und Weihnachten, gingen arbeiten und tranken nur selten. Was bedeutete, dass der Antrag sie aufgeregt haben musste.

»Nach Paula wollen sie wohl nicht noch ein Familienmitglied, das aus Spaß heiratet«, durchbrach Noah die Stille und legte den Arm um meine Schultern. Es war tröstlich, obwohl wohl eher Noah Trost gebrauchen könnte.

»Es tut mir wirklich ...«

»Leid«, sagte Noah und lächelte, während er auf meinen Wagen zusteuerte. »Ich weiß. Ist auch nicht schlimm. Sie fühlten sich wohl zurückversetzt und fürchten umihren Ruf.«

Die Hinzes und ihre Reputation. Das war das höchste Gut dieser Familie. Vater Maik übernahm den Süßigkeitenladen in der Nähe der Innenstadt von seinem Vater und dieser von seinem Vater. Diese Tradition ging Jahre zurück. Eins dieser schnuckeligen kleinen Familienbetriebe, die jeder gern betrat, weil sie einen heimisch fühlen ließen.

Vor einigen Jahren war dann Paula aufgetaucht, Noahs Tante, die nur fünf Jahre älter war als er selbst. Sie war mit einer Zwillings-Schwangerschaft angekommen, hatte von einer Verlobung gefaselt und hatte innerhalb eines Monats ihre »große Liebe« geheiratet. Dass diese nur wenige Wochen hielt, hatte allerdings auch niemand vorhersehen können.

Woraufhin sie fast direkt im Anschluss einen neuen Idioten fand, der bereit war, sie zu ehelichen. Eine Hochzeiten, bevor ihre Zwillinge auf der Welt waren. Eine Scheidung, direkt nach der Geburt und schon die neue Verlobung kurz danach.

»Ihr wievielter Ehemann ist jetzt am Start?«, fragte ich, um ein kleines bisschen das Gewicht der vorangegangenen Unterhaltung zu nehmen. Ich wusste auch so, dass Noah nicht gern über die dunklen Tage seines Lebens sprach. Was ich sehr gut nachvollziehen konnte.

»Ihr fünfter. Diesmal scheint es was Festes zu sein.«

»Muss man dafür erst den Kerl heiraten, um das herauszufinden?« Ein bisschen erinnerte es mich ja an Nathalie. Aber nur ein bisschen.

Noah grunzte belustigt, zog mich seitlich enger an sich und küsste meine Schläfe. Es war anders als der Kuss auf den Markt. Intimer. Inniger. Und ich wusste diese Geste zu schätzen, genoss die altbekannte Wärme in den Knochen, die nur Noah verursachen konnte.

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