Am nächsten Morgen quälte ich mich wie immer aus dem Bett. Ich zog mich an und ging in den Stall um die Pferde zu füttern, bevor ich selbst etwas aß. Ich schlurfte gähnend in Richtung Stall, als mir das Gähnen im Hals stecken blieb und ich husten musste, weil ich mich an meiner eigenen Spucke verschluckt hatte. Nicht, weil ich so etwas ungewöhnliches sah, sondern, weil ich bei meiner Gähnerei natürlich NICHT auf den Weg geachtet hatte und beinahe über die Wurzel gestolpert war, die seit Jahren, an genau der gleichen Stelle aus dem Boden ragte. Ich legte mich natürlich fast auf die Nase und vor Schreck schluckte ich meine Spucke runter, nur leider in die falsche Röhre. Ich erstickte fast an dem darauffolgenden Hustenanfall und bog schließlich mit hochrotem Kopf in die Stallgasse ein. Ich schnappte mir das erstbeste Heunetz, was von Golden Eye war und fing an zu füttern.
Ich aß gerade mein Müsli, als ich Gran die Treppe herunter kommen hörte, was etwas ungewöhnlich war, da sie meist noch schlief, wenn ich aus dem Haus musste. Gran kam in die Küche und rieb sich die Augen. ,,Morgen mein Schatz. Hast du gut geschlafen?" ,,Ja, hab ich. Wieso bist du denn schon wach?", fragte ich stirnrunzelnd. ,,Hatte einen Ruf", nuschelte sie. Gran war schon älter und empfing dementsprechend seltener Rufe, als jemand der Jünger war.
Bei Menschen lässt im Alter halt das Gedächtnis nach, bei Euphorias und Despairs waren es halt die Rufe. Wo wir bei der Frage wären, ob Despairs auch Fähigkeiten haben und Rufe empfangen können. Die Antwort darauf ist recht einfach: Ja, sie empfangen genau wie wir Rufe und haben fast genau die gleichen Fähigkeiten, nur unsere Aufgaben sind halt komplett gegensätzlich. Während irgendwelchen armen Säuen helfen, stutzen sie die Arschlöcher dieser Welt zurecht. Ich hoffe manchmal, dass ein paar meiner Mitschüler Besuch von einem Despair bekommen. Wenn wir übrigens erwachsen sind, können wir einander erspüren. Gran hat es einmal als eine Art dunkler Rauch beschrieben, der diese Person umgibt. Fragt mich jedoch nicht, ich hab keine Ahnung, woher auch!?
Wie viele Euphorias und Despairs gibt es überhaupt? Nun, das ist eine schwierige Frage. Es gibt grundsätzlich mehr Despairs als Euphorias, was schlicht ergreifend daran liegt, dass viele Despairs unvorsichtig sind und bei einem One-Night-Stand, jemanden schwängern. Wenn das Kind Glück hat, ist es ein Mädchen und kann (meistens) ganz normal aufwachsen. Wenn es Pech hat, ist es ein Despair. Ich sage Pech, weil ein Despair-Baby beim ersten Augenaufschlag unnatürlich leuchtend grüne Augen hat. Bei einer Euphoria sind sie blau. Meistens ändert sich die Farbe schon in der ersten Nacht. Wenn sie sich nicht ändert, verliert sie doch an Intensität, nur in sehr, sehr seltenen Fällen bleibt die Augenfarbe so, wie sie war. Die Betroffenen haben oft auch darunter zu leiden, ich meine, wie würdet ihr reagieren, wenn ihr auf einmal jemanden mit so grünen oder blauen Augen gegenüberstehen würdet, das man einfach den Blick nicht abwenden kann? Es wäre irgendwie gruselig, oder? Aber zurück zur eigentlichen Frage. Schätzungen des Kreises zufolge, gibt es ca. 23.000 Euphorias und ca. 36.000 Despairs weltweit. Allerdings sollte ich anmerken, dass man nicht automatisch Junge oder Mädchen wird, also kann es sein, dass man die Anlagen dafür in sich trägt und an seine Kinder weitergibt, die dann wahrscheinlich ebenfalls keine Euphorias oder Despairs werden. Manchmal wird Generationen später noch eine Euphoria oder ein Despair geboren, meistens jedoch nicht. Ich vermute, dass wahrscheinlich in jedem Menschen irgendwo ein bisschen von beidem steckt.
Gran riss mich aus meinen Gedanken. ,,Katy, hörst du mir überhaupt zu?" Ich versuchte krampfhaft mich an ihre letzten Worte zu erinnern. Gran seufzte. ,,Natürlich nicht. Ein Wunder, dass du in der Schule gute Noten schreibst, wenn du ständig mit deinen Gedanken wo anders bist." Ich schwieg und nickte brav. Gran seufzte und fing nochmal von vorne an. ,,Katy, ich habe, wie gesagt, einen Ruf empfangen. Leider führt mich Ruf jedoch an die Küste Kaliforniens." Ich weiß genau, was sie mir damit sagen will. Wir empfangen nur Rufe von weiter weg, wenn sie länger dauern, als normaler Weise. Normaler Weise heißt: höchstens ein bis zwei Monate. Tendenziell eher weniger. Wir leben in Salamanca, was ungefähr zwei bis drei Stunden Autofahrt von New York entfernt ist. Das hieße also für mich, meine Heimat zurück zu lassen und mit Gran nach Kalifornien fliegen zu müssen. Normalerweise hat Grace immer auf mich und die Pferde aufgepasst. Als Gran dann älter wurde, war es nicht mehr nötig, vor allem, weil sie nicht mehr soweit weg musste und ich auch eine Woche oder zwei für mich selber sorgen konnte. Und jetzt, naja, kann Grace aus gegebenen Gründen nicht mehr nach mir sehen.
Mir fiel plötzlich eine Kleinigkeit an Grans Satz auf. ,,Warte mal, woher weißt du überhaupt, wo er oder sie ist?" Meistens wissen wir nicht, wo die Person aus unserem Ruf ist. Gran hat einmal einen Ruf erhalten und hat monatelang nach dieser Person gesucht. Dann spürte sie das Kribbeln, das einem sagt, dass der Auftrag erledigt ist.
Es gibt zwei Gründe, dieses Kribbeln zu spüren: der Erste ist, wenn wir, wie gesagt, eine Aufgabe erfolgreich abgeschlossen haben. Der Zweite ist, wenn die Person gestorben ist. Ziemlich radikal ich weiß, aber hey, ich hab mir das nicht ausgedacht. Wenn wir also scheitern oder sie schlicht und ergreifend nicht finden, dann ist die Person so gut wie tot, ganz nach dem ,,Friss oder stirb"- Prinzip. Manche Euphorias können diese Verantwortung nicht tragen und töten sich lieber selbst, als vielleicht für den Tod anderer ,,verantwortlich" zu sein, was ein weiterer Grund dafür ist, dass es weniger Euphorias gibt, als Despairs. Ich bin jedoch der Meinung, sterben oder sich umbringen muss diese Person immer noch selbst, das hat nichts mit mir zutun. Ich bin zum Glück noch nie gescheitert und habe auch nicht vor, das nachzuholen.
,,Ich hab im Hintergrund ein Schild mit der Aufschrift ,,Arcadia" gesehen. Ich hab recherchiert und hab herausgefunden, dass es ein Vorort von L.A. ist, also müssen wohl oder übel dorthin", beantwortete Gran meine Frage. Ich suchte einen letzten Ausweg. ,,Kann ich nicht so lange zu Lil ziehen?", fragte ich verzweifelt. Gran seufzte und massierte sich die Schläfen. ,,Ich fürchte, das geht nicht Katy. Lil hat schon eine kleine Wohnung und ich glaube nicht, dass du dort einziehen kannst. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich meinen Auftrag erledigt habe." Das würde heißen, dass... Ich sprang entsetzt auf. ,,Was ist dann mit den Pferden?", fragte ich angespannt. ,,Katy, ich..." ,,Antworte mir!", kreischte ich. ,,Golden Eye und Azura werden wir zurück geben müssen", antwortete Gran und ich trippelte unruhig die Küche auf und ab, ,,Enzo, Jano und die anderen werden wir abgeben müssen..."
Wortlos lief ich an Gran vorbei und knallte die Tür zu. Das wovor ich am meisten Angst hatte, war eingetreten. Mit Lil, Leanne und den anderen konnte ich schreiben, telefonieren, skypen etc. pp. Sie konnten mich außerdem besuchen kommen und anders herum. Auch wenn es vielleicht nicht dasselbe war, ich würde sie sehen regelmäßig können. Meine Pferde hingegen würde ich nie wieder sehen. Selbst, wenn ich es durfte, würde ich es nie tun. Orador hatte ich von einer jungen Frau gekauft, der man anmerkte, dass es schwer fiel, sich von ihm zu trennen. Ich habe ihr angeboten, dass sie ihn besuchen kann, wann immer sie möchte. Sie hat mich jedoch nur traurig angelächelt. Nach diesem Tag hab ich sie nie wieder gesehen. Es tut einfach zu weh, sich von einem geliebten Tier zu trennen. Das Bewusstsein, dass es ihm gut geht, macht den Schmerz leichter zu ertragen, jedoch nicht weniger stark.
Ich ging auf direktem Weg in mein Zimmer, schnappte mir meine Schultasche und stürmte nach unten. Gran fing mich im Flur noch mal ab. ,,Katy, wir werden eine gute Lösung finden", sagte sie fest. Ich war allerdings zu verletzt und zu wütend auf sie, um passend zu reagieren. Ich riss mich wortlos von ihr los und stürmte aus der Tür. Einen Moment lang hatte ich noch Grans verzweifeltes Gesicht sehen können, aber in dieser Sekunde war es mir komplett egal. In meinem Kopf schrie nur eine Frage: ,Warum!?'

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Euphoria (Abgeschlossen)
FantasyEskada, von allen nur Katy genannt, ist eine Euphoria, also jemand, der dafür sorgt, dass die Menschen die Hoffnung nicht aufgeben, egal wie auswegslos die Lage ist. Sie ist dafür verantwortlich, dass es immer einen Ausweg gibt und sie ist nie gesch...