,,Ist alles ok?", fragte ich ihn verunsichert. Will stellte mich abrupt und nicht gerade sanft wieder auf dem Boden ab. Wortlos schob er mich aus dem Zimmer, ich war zu überrascht von seinem plötzlichen Sinneswandel um reagieren zu können und stand wie gelähmt im Flur.
Das Knallen seiner Zimmertür ließ mich zusammenzucken. Ich spürte, wie meine Kehle sich zuschnürte und mir die Luft zum Atmen nahm. Meine Augen brannten und füllten sich mit Tränen. Ich atmete unregelmäßig und ließ mich, ohne einen Laut von mir zu geben, auf den Boden sinken und schlang die Arme um mich.
,NEIN! Du hörst sofort auf zu heulen, wegen diesem Kerl, er hat deine Tränen nicht verdient! Du gibst ihm diese Genugtuung nicht!', hörte ich meinen Verstand mir zurufen. Ich nickte mir selbst zu und zwang mich langsamer und regelmäßiger zu atmen. Ich blinzelte die Tränen in meinen Augen weg und hatte langsam wieder das Gefühl Luft zu bekommen. Ich stand mit wackligen Beinen auf und verließ das Haus. Äußerlich wirkte ich wie immer schlecht gelaunt, düster und distanziert, während ich innerlich zerbrach. Dennoch hielt ich die Fassade aufrecht. Ich konnte es wirklich gut; ich hatte zu oft Gelegenheit gehabt, dies zu üben. Meine Mutter hat mir keinerlei Werte beigebracht. Aber wenn ich eins von ihr gelernt habe, dann dies. Meistens glaubten mir sogar Lil und Gran, die beiden Menschen, die mich am Besten kannten. Ich sollte Schauspielerin werden.
Ich hatte den Glauben in das Gute schon als Achtjährige verloren, dafür hatte ich schon zu viel mitmachen müssen. Meine Seele hatte ich schon davor aufgegeben, also blieb mir nur noch mein Verstand. Mit der Zeit hat sich eine Art Stimme heraus gebildet, die mir immer half, wenn ich todtraurig und gebrochen am Boden lag und einfach nicht mehr weiterwusste. Dann half mir meine Stimme, die mir immer wieder und wieder ins Ohr flüsterte, warum ich nicht aufgeben durfte. Damals nannten mich alle noch Eskada, deshalb gab ich ihr den Namen Katy. Später habe ich dann diesen als meinen Spitznamen angenommen. Katy half mir immer, fast jeden Tag. Sie flüsterte mir Mut zu und sagte mir, was ich als nächstes tun sollte. Ich glaube, ich habe in dieser Zeit fast schon eine Schizophrenie entwickelt. Dass ich der Stimme einen Namen gab, hat diese Situation nicht unbedingt verbessert. Meine Mutter hat mir so ziemlich jeden Komplex und die ein oder andere psychische Krankheit angedreht.
Aber hey, ich bin ohne Schizophrenie da raus gekommen, also beschwert euch nicht, ich würde dauernd die Mitleids-Schiene fahren, denn ich sage nur, was Sache ist. Ich habe jedenfalls den Namen Katy als Spitznamen übernommen, um mich immer daran zu erinnern, wie man seine Kinder NICHT erziehen sollte und vor allem warum nicht. Glaubt mir, es kann nur Müll dabei rauskommen und ich glaube, ich bin noch harmlos.
Als ich vor der Haustüre stand, fiel mir auf, dass ich keinen Schlüssel dabei hatte. Ich hoffte, dass Gran da war und klopfte und klingelte. Niemand öffnete. Frustriert ließ ich mich auf die Stufen sinken und kramte nach meinem Handy, bis mir einfiel, dass mein Handy neben meinen Schlüssel auf meinem Nachttisch lag. Ich fuhr mir durch das Gesicht, verhakte seufzend meine Finger mit meinen Haaren und stützte meinen Kopf in die Handflächen. Ich zwang mich ruhig zu bleiben und ging meine Möglichkeiten durch. Ich konnte mich bei Lil verkriechen, aber nach der peinlichen Rausrenn-Aktion, wollte ich das eher nicht. Ich konnte nebenan klopfen und bei Carolin auf Gran warten, allerdings war mir die Wahrscheinlichkeit zu hoch, dass ich Will über den Weg lief und nachdem er mich ohne ein Wort rausgeschmissen hat, wollte ich ihn ganz bestimmt nicht sehen! Also blieb mir wohl nur Möglichkeit Nummer drei: Hier sitzen bleiben und auf Gran warten. Ich seufzte tief und setzte mich bequemer hin. Ich lehnte mich gegen die Hauswand und schloss einen Moment erschöpft die Augen.
Ich hörte ein Donnergrollen und kriegte zwei fette Tropfen ab. ,Oh nein, bitte nicht!', dachte ich noch verzweifelt. Fünf Sekunden später saß ich im strömenden Regen. Innerhalb von Sekunden war ich komplett durchnässt und ich schlug mehrmals mit dem Hinterkopf gegen die Wand. Ich wandte meinen Blick in Richtung Himmel und stieß einen frustrierten Wutschrei aus. Ich kam mir langsam vor, wie in irgendeiner schlechten Schnulze. Fehlte nur noch, dass Will jetzt angerannt kam und mir zu Kreuze kroch, weil er weiß wie viel Mist er gebaut hat und es ihm ja sooo leid tut. Ich müsste ihm freudig anspringen und ihn küssen, weil wir uns ja beide liebten und er mir ja sooo wichtig war. Habe ich schon erwähnt, dass ich Schnulzen hasse?
Natürlich passierte nichts dergleichen. Ich beobachtete die Autos, die die Straße ab und zu entlang fuhren und jeder verdammte Autofahrer sah mich schräg an und hielt mich wahrscheinlich für durchgeknallt. Ich versuchte krampfhaft, mich abzulenken, damit ich nicht über Will nachdachte, was nur mäßig funktionierte. Ich versuchte, irgendwelche philosophischen Fragen zu beantworten (ich war eigentlich grottenschlecht in Philo), zählte die Wolken und dachte über meine liebenswürdigen Mitschüler nach. Und, zack, waren meine Gedanken wieder bei dem bestaussehenden Arschloch der ganzen Schule.
Ich zwang meine Gedanken nicht in die Richtung abzuschweifen und dachte stattdessen über die Schulschlampe Jessy nach. Jessy war genauso alt wie ich und um einiges hübscher. Sie war aufgrund ihrer türkischen Wurzeln immer leicht gebräunt und sah deshalb auch immer so aus, als wäre sie gerade aus dem Luxusurlaub in der Karibik zurück. Außer der Bräune hatte sie auch noch das dichte, schwarze Haar geerbt, dass sich immer von selbst in lockere Wellen legte und ihr hübsches Gesicht umspielte. Sie hatte große, blaue Augen und einen Schmollmund, der sie gleichermaßen hübsch, wie niedlich wirkten ließ. Zudem hatte sie eine Top-Figur und strahlte immer etwas geheimnisvolles aus. Ich brauche wohl nicht zu erwähnen, dass alle Mädchen gerne wie Jessy aussehen würden und die Meisten der Jungs und ein paar Mädchen unsterblich in sie verliebt waren.
Allerdings war Jessy wirklich eine Schlampe, sorry but true. Sie hatte mit allen Football-Spielern geschlafen, mit anderen Sportlern und auch mit ein paar der Nerds... wenn ich es mir Recht überlege, hat sie mit dem halben Jahrgang geschlafen und dem darüber auch. Manchmal, wenn ich solche Geschichten über sie höre, frage ich mich, ob das nicht alle davon ablenken soll, was sie wirklich beschäftigt. Ich habe ein paar Mal im Unterricht neben ihr gesessen und sie ist eigentlich ganz nett, soweit ich das beurteilen konnte. Ich habe das Gefühl, sie zieht enge und kurze Sachen an, damit die Leute überall hinsehen, nur nicht in ihre Augen.
Ich riss mich aus meiner Grübelei über Jessy und dachte stattdessen an Jano und Azura. Ich glaubte, dass Gran die Beiden schon versorgt hat, aber wollte lieber nochmal auf Nummer sicher gehen und machte mich auf den Weg in den Stall. Währenddessen fiel mir auf, dass ich schon viel früher hätte machen können, anstatt mich nassregnen zu lassen. Ich schlug mir die Hand vor die Stirn und hätte mich am Liebsten selbst k.o. geschlagen wegen meiner Dummheit.
Im Stall war es trocken und ruhig. Die Pferde streckten neugierig den Kopf aus der Box, als ich hinein kam. Ich lief zu Jano und ging zu ihm in die Box. Er sah mich ruhig und neugierig an und ich streichelte ihm über die Nüstern und drückte ihm danach einen Kuss auf selbige. Ich schloss die Box hinter mir und setzte mich hin. Jano streckte den Kopf zu mir runter und schnüffelte an meinen Haaren. Dann wuschelte er mir sanft mit der Oberlippe dadurch. Da meine Frisur sowieso zerstört war und ich gerade etwas Trost gebrauchen konnte, störte es mich nicht weiter. Ich hob meine Hände und massierte seine Ohren. Jano hörte auf mich zu putzen und schloss genießerisch die Augen, was mich zu Lachen brachte. Ich unterbrach meine Massage, um ihm die Anweisung zum hinlegen zu geben, was er dann auch tat. Ich krabbelte zu ihm rüber, legte mich in die Lücke zwischen seinen Hufen und kuschelte mich vertrauensvoll an ihn. Sanft kraulte ich seinen Widerrist und spürte wie etwas von seiner Ruhe langsam auf mich überging. Meine Atmung wurde ruhiger und meine innere Anspannung ließ nach. Jano kannte es schon, dass ich manchmal bei ihm Trost suchte und blieb dementsprechend ruhig liegen. Ein Ohr lag an seinem Bauch und ich lauschte seinen Atemzügen. Ich passte meine Atmung irgendwann an Seine an und wurde langsam schläfrig. Ich schloss erschöpft die Augen... nur für... eine Minute... Und schon war ich eingeschlafen, angekuschelt an das einzige Wesen, dass mich bedingungslos liebte.
Er passte auf mich auf, bis meine Gran, die mich sich schon Sorgen gemacht hatte, mich fand. Ich glaube, sie war zweimal da. Das zweite Mal hatte sie jemanden bei sich, ich war kurz ein wenig wach geworden und hatte ein verschwommenes Gesicht erkennen können. Jedenfalls hatte dieser jemand mich unglaublich sanft hochgehoben und mich in mein Bett getragen. Ich hatte mich unbewusst an ihn angekuschelt und für eine Sekunde hätte ich schwören können, dass Wills Stimme in mein Ohr geflüstert hat: ,,Es tut mir leid Katy."
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Euphoria (Abgeschlossen)
FantasíaEskada, von allen nur Katy genannt, ist eine Euphoria, also jemand, der dafür sorgt, dass die Menschen die Hoffnung nicht aufgeben, egal wie auswegslos die Lage ist. Sie ist dafür verantwortlich, dass es immer einen Ausweg gibt und sie ist nie gesch...