Kapitel 20

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Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich sofort hellwach, was mich wunderte, da ich normalerweise ein ziemlicher Morgenmuffel bin. Außerdem hatte ich heute Nacht keine Albträume gehabt. Ich warf einen Blick auf die Uhr und stellte fest, das mein Wecker erst in einer Viertelstunde klingeln würde. Ich beschloss trotzdem aufzustehen; eine Viertelstunde mehr Zeit am Morgen, war mit Sicherheit nicht verkehrt. Ich wollte gerade Schwung holen, als mir eine Kleinigkeit auffiel: Ich war schon komplett angezogen! Verwirrt sah ich mich im Zimmer um, aber ich war alleine und nirgendwo liefen Heinzelmännchen oder ähnliches durch die Gegend.

Dann kam die Erinnerung an Gestern wie ein Schwall kaltes Wasser zurück und ich zuckte zusammen, als meine Brust sich schmerzhaft zusammenzog. Meine Augen brannten und füllten sich, mal wieder, mit Tränen. Meine Kehle schnürte sich zu und ich hatte das Gefühl keine Luft mehr zubekommen. Ich zwang mich regelmäßig zu atmen und hielt die Tränen mit aller Macht, die ich noch hatte, zurück, während ich mir immer wieder in Gedanken sagte: ,Katy reiß dich zusammen! Er ist ein Arschloch und hat deine Tränen nicht verdient!' Schließlich hatte ich mich wieder im Griff und wartete noch kurz, bis das Rot aus meinen Augen verschwunden war. Dann setzte ich meine übliche Morgenmuffel-Miene auf und ging hinunter zu den Pferden, um sie zu füttern.

Als ich in die Küche kam, war Gran noch nicht da, was mir nur entgegen kam. Ich machte mir Müsli und aß es hastig. Wenn ich mich noch schminken wollte, musste ich mich beeilen, denn ich würde mit Sicherheit mehrere Anläufe brauchen. Ich weiß, normalerweise machte ich das nicht. Ich hatte aber das Gefühl, eine zweite Maske würde mir heute in der Schule helfen, sollte ich heute Will über den Weg laufen.

Plötzlich wurde ich wütend. Er hatte kein Recht mir so etwas anzutun, ich hatte ihm schließlich nichts schlimmes getan! Außerdem hatte er mich geküsst und nicht andersherum! Ich verstand diese Aktion, mich erst küssen und mich dann, im wahrsten Sinne des Wortes, im Regen stehen lassen, einfach nicht. Was zur Hölle sollte das!? Ich glaubte ihm einfach nicht mehr, dass es nicht irgendeine kranke Wette gewesen war! Ich war nicht sein scheiß Spielzeug! Er konnte sich gefälligst jemanden mit größeren Titten und weniger Verstand dafür aussuchen! Wenn er das nächste Mal bei mir ankommen sollte, sollte er lieber eine verdammt gute Erklärung dafür haben, oder ich werde ihn aufschlitzen und seine Innereien vor seinen sterbenden Augen verspeisen! Wütend knallte ich meine Schüssel auf die Spüle und rannte zur Treppe. Im Flur legte ich mich zum fünftausendsten Mal beinahe auf die Schnauze. Argh! Ich lernte auch einfach nicht aus meinen Fehlern!

Als ich fertig war, sah mir eine fremdes Mädchen aus dem Spiegel entgegen. Sie hatte Smokey-Eyes und hellrosa Lippen, die voller wirkten als sonst. Das dunkle Make-Up verstärkte ihre düstere Ausstrahlung. Ich sah mich im Spiegel an und sah doch jemand anderes. Das war auch der Grund, warum ich mich normalerweise nicht schminkte, denn fühlte ich mich wie jemand fremdes. Ich hatte allerdings das Gefühl, dass ich das heute in der Schule ganz gut gebrauchen konnte. Ich starrte durch den Spiegel in die Augen und stieß auf eine Mauer. Seufzend zog ich mich zurück, schnappte meinen Rucksack und machte mich auf den Weg zu Leanne und Lil.

Eine weitere Fähigkeit der Euphorias ist, das sie mit einer gewissen Konzentration, Gefühle spüren können. Dafür braucht man nur eine Sache: Blickkontakt. Je aufgeschlossener die Person ist, desto einfacher ist es, denn um die wahren Gefühle einer Person sehen zu können, muss man direkt in ihre Seele blicken.

Warum ich es nicht mit Will gemacht habe? Nun ja, wie mit allen Fähigkeiten der Euphorias, ist auch diese hier mit Vorsicht zu genießen. Zunächst einmal spürt man es sehr deutlich, wenn jemand in deiner Seele herumgeistert und lasst euch gesagt sein: Es ist nicht besonders angenehm, wenn du wie ein Käfer auf dem Rücken liegst, während dein Gegenüber deine geheimsten Wünsche und Gedanken erspüren kann. Naja, ich übertreibe ein bisschen. Man sollte auch wissen, dass nur noch sehr wenige Euphorias diese Gabe besitzen, da diese durch die Jahrhunderte bei vielen verkümmert ist, wahrscheinlich, weil sie wirklich nicht oft angewendet wird. Es ist zwar nicht verboten, wie bei den Befehlen, allerdings kann der Seelenblick, wie wir ihn nennen, bei gewisser Veranlagung psychische Krankheiten, wie Depressionen, Aggressionen und Manische-Depressionen verstärken und in seltenen Fällen sogar hervorrufen. Ich denke, man sieht, dass solche Kräfte nicht nur Vorteile haben. Lil und ihre Mutter zum Beispiel besitzen diese Fähigkeit gar nicht. Meine Mutter und Gran übrigens auch nicht. Warum sie sich bei mir ausgebildet hat, wissen wir nicht.

Warum hat es bei mir nicht funktioniert? Das ist eine berechtigte Frage, die jedoch recht einfach zu beantworten ist: Man kann sich selbst nicht in Seele blicken, weil man schon darin wohnt. War das zu kompliziert? Ich versuche es etwas einfacher zu erklären: Mal angenommen, ihr seid in eurem Haus, eurer Wohnung etc. pp. Mal angenommen, ihr schaut durch ein Fenster nach draußen. Was werdet ihr sehen? Richtig, dass was davor ist, also Straßen, Bäume usw. Auch wenn ihr eine Spiegelung des Fensters sehen würdet, würde sie euch das Gleiche zeigen, oder? So funktioniert das auch mit dem Seelenblick durch den Spiegel: Ihr könnt nichts anderes sehen, als das, was vor dem Fenster ist. Man sagt, die Augen seien das Fenster zur Seele. Nun ja, dieses Sprichwort ist wahr.

Lil stand schon vor der Tür und wartete auf mich. Sie lächelte mich mitleidig an, als ich aus der Tür hinaus trat. Ich ignoriete dies, nicht, weil ich ihr Mitleid nicht wollte, sondern, weil mir nichts anderes übrig blieb, wenn ich den heutigen Tag überstehen wollte. Schweigend gingen wir rüber. Leanne war noch nicht da. Nach fünf Minuten sagte ich zu Lil: ,,Ich gehe mal klopfen." Sie nickte und folgte mir die Treppe hoch. Ich stand da mit erhobener Hand und wollte gerade klopfen, als ich Leannes Stimme hören konnte.

,,... was das mit Katy zu tun hat, sie hat es einfach nicht verdient, dass du sie so behandelst." Ich erstarrte, als ich meinen Namen hörte und warf Lil einen Blick zu. Lils Gesichtsausdruck sagte mir, dass es ebenfalls gehört hat. Wills Stimme antwortete gleichermaßen wütend wie verletzt. ,,Katy hat so schon genug durchgemacht, dann braucht sie nicht auch noch mich an ihrer Backe kleben." ,,Trotzdem hättest du zumindest versuchen müssen, es ihr zu erklären, so wie du es mir erklärt hast", erwiderte Leanne sanft. ,,Und was, wenn sie mir nicht geglaubt hätte?" ,,Dann wäre das halt so gewesen, dann hättest du wenigsten einen verdammten Grund gehabt, sie von dir zu stoßen, also entschuldige dich gefälligst bei ihr!" Will seufzte. ,,Warum? Es scheint sie nicht besonders verletzt zu haben, sie hat nicht mal ein Geräusch von sich gegeben!"

Ein klatschendes Geräusch ertönte und mir wurde klar, dass Leanne ihn geschlagen haben musste. ,,Du bist ein empathieloses Arschloch, Will Skytrail! Wie kannst du nur glauben, dass so jemand wie Katy sich vor deiner Tür ausheult und dich anfleht, sie wieder hinein zu lassen!? Katy ist stärker als alle Mädchen der gesamten Stadt zusammen, aber du bist auf dem besten Weg, sie zu zerstören, du hirnloser Spast!" Leanne kam den Flur herunter gerannt und Lil und ich hasteten die Treppe runter. Als Leanne mit verärgerter Miene die Tür öffnete, sahen wir so aus, als wären wir gerade hier angekommen. Leannes Gesichtsausdruck glättete sich, als sie uns sah und begrüßte uns herzlich.

Obwohl es mir schwer fiel, fragte ich sie nicht dem Streit mit Will. Als wir an der Schule angekommen waren, stieß ich sofort die Tür auf und verschwand fluchtartig in der Menge.

Warum? Nun, ich hatte Wills Auto im Rückspiegel gesehen und er war keinesfalls allein gewesen.

Euphoria (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt