Kapitel 16

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Tja, als ich an der Bushaltestelle gestanden hatte, hatte ich schlicht und ergreifend keine wirkliche Lust, mich bei ihm zu bedanken. Aber nach der Aktion, mich erst in Schutz nehmen und mich dann nicht mal ansehen können, hatte ich ziemlich wenig Lust etwas mit ihm zu unternehmen. Aber um mein Handy zurück zubekommen muss ich das wohl oder übel.

,,Nein, ich habe nicht vergessen, was er in der Pause für mich getan hat. Aber ich habe auch die Show, die er vor der Schule abgezogen hat nicht vergessen! Wie kann man nur solche Stimmungsschwankungen haben!? Ist er schwanger oder was!?", regte ich mich ein bisschen auf. Lil prustete los. Ich sah sie verwirrt an. Sie fing meinen verwirrten Blick auf und erklärte immer noch lachend: ,,Du bist doch selbst genauso! Ihr passt so gut zueinander!" ,,Ach, darum geht es also!? Ihr wollt uns verkuppeln!?", rief ich empört. Lil beachtete meine Empörung jedoch gar nicht. ,,Natürlich du Nudel, was dachtest du denn!?" Ich öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, schloss ihn jedoch wieder, als ich merkte, dass mir nichts Passendes einfiel.

Die Wahrheit war: Ich hatte noch gar nicht darüber nachgedacht, aber Lil hatte natürlich recht: Es war das einzig Logische gewesen. ,,Warum?", wollte ich wissen. Lil verdrehte nur die Augen. ,,Weil es zwischen euch knistert, seitdem ihr euch das erste Mal gesehen habt. Meinst du ernsthaft, ich hätte nicht diesen langen, intensiven Blick auf dem Gang am Donnerstag gesehen!? Deine alte Freundin ist nicht blind!" Erneut öffnete ich meinen Mund, nur um in wieder zu schließen. Ich sah aus wie ein Goldfisch. Am Ende kam ein: ,, Hä? Du bist doch genauso alt wie ich!?" dabei heraus. Mir war nichts besseres eingefallen. Lil winkte nur ab. ,,Darum geht es nicht und das weißt du. Versuch ja nicht abzulenken Madame!", sagte Lil gespielt streng und hob drohend den Zeigefinger. ,,Tu ich doch gar nicht", nuschelte ich ein wenig verlegen. ,,Ja, ja, red dir das ruhig ein. Du findest ihn trotzdem heiß", zog Lil mich grinsend auf. ,,Hä? Was hat denn das eine mit dem anderen zu tun!?" Bei mir herrschte mal wieder maximale Verwirrung und ich kratzte sogar mich unbewusst stilecht am Hinterkopf. Lil zuckte nur mit den Schultern. ,,Keine Ahnung, was das miteinander zutun hat. Sag du es mir", forderte sie mich auf. Ich ging jedoch nicht darauf ein, weil ich keine Lust auf endlose Diskussionen hatte und einfach nur mein fucking Handy zurück haben wollte. ,,Muss ich das wirklich heute machen? Ich meine du kennst meine Mutter, die versteht keinerlei Spaß." ,,Pff, deine Mutter als Begründung vorzuschieben, war ein kluger Schachzug! Allerdings habe ich bereits mit deiner Gran ausgehandelt, dass du dieses Wochenende bei mir bleiben darfst, damit du dich entspannst und mal was isst!"

Lil wusste natürlich um meinen, zugegebener Maßen, psychisch labilen Zustand und machte sich immer sofort riesengroße Sorgen, wenn ich mal eine Mahlzeit ausließ oder einen meiner Flashbacks hatte. Zum Glück hatte ich davon noch nie einen in der Schule gehabt, sonst würde ich mit Sicherheit in der Klapse landen!

,,Lil", versuchte ich sie zu beruhigen, ,,ich hab doch heute Morgen jede Menge gegessen. Und gestern Abend hast du mich fast schon gezwungen,eine zweite Portion Nudeln zu essen." Ich hasste es, wenn sie anfing mich zu bemuttern. Meine Mutter war fast nie da für mich gewesen, also hatte ich gelernt allein mit meinen Problemen klar zu kommen. Ich hatte mich immer irgendwie durchgebissen, ohne vollkommen am Rad zu drehen und deshalb würde ich das auch nicht ändern. Ich brauchte niemanden.

So hatte ich gedacht als ich hier angekommen war. Dann traf ich Lil in der Schule und sie war ebenso alleine gewesen wie ich. Als sie mich gesehen hat, hat sie mich sofort in Beschlag genommen und mich den lieben, langen Tag zugequasselt. Am Anfang fand ich sie einfach nur nervig, doch ertappte ich mich eines Tages dabei, wie ich ihr immer interessierter zuhörte. Zuerst war ich wütend auf mich selbst, aber dann merkte ich, dass ich sie langsam lieb gewann. Die blöde Kuh hat sich einfach in mein Herz geschlichen und sich darin verbarrikadiert!

Eines Tages fing ich langsam an, mit ihr einzelne Sätze zu wechseln. Bis dahin hatte ich nie ein Wort zu irgendeinem von den Schülern gesagt. Lil allerdings verstand mich damals schon ohne Worte und spielte oft ,,Dolmetscher" für mich. Jedenfalls öffnete ich mich langsam ihr gegenüber und sprach kurz darauf auch schon einzelne Sätze mit den anderen Schülern. Nur war ich da schon in ihren Augen ein Freak, der so arrogant war, dass er nur mit Erwachsenen sprach. Das ich einfach nur eingeschüchtert wurde, von jedem Erwachsenem, dem ich begegnet war (außer Gran) und es deshalb nicht wagte, nicht zu antworten, darauf kamen sie nie. Es geht sie auch nichts an. Jedenfalls erfuhr ich bald, dass Grace und Gran gut befreundet waren und Lil ebenfalls eine Euphoria war. Das war glaube ich der Zeitpunkt, wo jegliches Eis zwischen uns gebrochen war.

Und irgendwann erhielt ich meinen ersten Ruf. Die Meisten werden sich schon gefragt haben, ob man mit dieser Fähigkeit schon geboren wurde oder nicht. Die Rufe kommen mit dem Einsetzen der Pubertät. Ich hab meinen Ersten mit zwölf gekriegt, was als durchschnittlich gilt. Lil war etwas früher dran als ich. Ich war allerdings froh, dass ich später dran war als sie.

Warum? Weil es meiner Mutter so richtig eins auf die Fresse gab, dass ,,ihre" Tochter nur durschnittlich ist. Sie wollte, dass ich eine mächtige Euphoria wurde, am Besten an der Spitze des Kreises, damit sie mich schön beeinflussen konnte. Ich wäre am Liebsten ein totaler Mickerling in Sachen Kräfte und Machtposition.

Ich glaube der erste Ruf war der Zeitpunkt, als mir bewusst wurde, wie viel ich durch meine Erzeugerin verloren habe. Ich war so wütend auf sie, dass ich mir das Telefon im Wohnzimmer schnappte und sie anrief. Da hab ich sie das erste Mal wirklich angeschrien. Da hatte ich zum ersten Mal keine wirkliche Angst mehr vor ihr. Da hab ich ihr zum ersten Mal einen Spiegel vor ihre Visage gehalten und sie hat mich dafür ebenfalls angeschrien.

Was mir der Ruf gezeigt hat? Eine Mutter, die ihr Kind nach Hause durch den strömenden Regen trägt, weil es nicht mehr kann. Nach diesem riesigen Streit habe ich stundenlang geweint. Um meine verlorene Kindheit. Um die Mutter die ich verdient hatte. Aber vorallem war es unendliche Erleichterung gewesen. Erleichterung darüber, dass ich endlich, endlich aus ihren Fängen befreit war. Die Therapeutin sagte mir später, dass dies ein wichtiger Schritt gewesen sei, um wieder aus mir herauszufinden.

Ich habe zwei weitere Jahre gebraucht um das Ausmaß des Schadens zu verstehen, den sie in meiner Seele angerichtet hat. Ich kann ihr bis heute nicht verzeihen. Ich weiß nicht, ob ich das jemals können werde. Ich glaube, dass Lil und die Therapie der Grund sind, warum ich nicht die Flinte ins Korn geworfen habe und die nächstbeste Klippe hinunter gesprungen bin oder mir die Pulsadern aufgeschlitzt habe. In gewisserweise verdanke ich Lil also mein Leben.

Lil unterbrach meine Versunkenheit, indem sie am Handgelenk schnappte und mich mit in die Küche nahm. ,,Also auf was hast Lust? Was mit Nudeln oder lieber mit Kartoffeln?", fragte sie mich. Ich musste nicht lange überlegen. ,,Kartoffeln. Nudeln hatten wir gestern Abend schon", ergab ich mich seufzend ihrer Beharrlichkeit. ,,Gut. Gehst du mal ins Wohnzimmer und fragst Will, ob er mit uns essen möchte?", bat sie mich. Ich nickte und ging ins Wohnzimmer, wo Will sich inzwischen auf die Couch niedergelassen hatte und irgendeinen sinnlosen Scheiß auf Lils Fernseher guckte. Ich wusste schon, dass er ein echtes Arschloch war, also ließ ich es unkommentiert. Ich räusperte mich, um auf mich aufmerksam zu machen, aber sagte nur ohne von der Mattscheibe aufzusehen: ,,Ich hab dich schon bemerkt. Was ist denn eigentlich? Ich hab nur gehört, wie du Lil mit ihrer Ermordung gedroht hast und dann wart ihr zu leise. Was hat sie denn getan?" ,,Das Gleiche was Leanne mit dir getan hat: Sie hat mein Handy versteckt und ich hab keine Ahnung, wo es sein könnte", erklärte ich nüchtern. Will lachte leise. ,,Was für hinterlistige Biester. Lass mich raten, sie haben das abgesprochen", erwiderte er und schaltete den Fernseher aus. ,,Allerdings. Und, tada, ich muss etwas mit dir machen. Sie haben uns überlistet, aber ich habe einen Plan, wie wir sie zurück überlisten können", sagte ich schadenfroh. Will lehnte sich grinsend vor. ,,Ich bin ganz Ohr Prinzessin."

Prinzessin!? PRINZESSIN!? Sein fucking Ernst!? Ich versuchte mich wieder zu beruhigen, indem ich tief durchatmete, es funktionierte aber nur mäßig. Schließlich riss ich mich zusammen. ,,Ganz einfach: Wir schlagen sie mit ihren eigenen Waffen?" ,,Und wie?" Ich lächelte hinterlistig und beugte mich vor. Leise erklärte ich ihm meinen Plan und ein teuflisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. ,,Gar kein schlechter Plan, Prinzessin." ,,Nenn mich nicht so!", fauchte ich wütend. Sein Grinsen wurde noch breiter. ,,Wie war das nochmal, Prinzessin?", sagte er provozierend. Ich hätte ihn am liebsten wieder eine Backpfeife verpasst. Stattdessen wandte ich mich um und wollte schon aus der Wohnung stürmen, als mir jedoch einfiel, dass mein armes Handy immer noch in Lils Fängen war und ich immer noch verzweifelt versuchte es zurück zu bekommen. Außerdem rannte ich immer noch barfuß in dem alten Jogginganzug von Lil herum und meine Haare sahen aus wie ein Vogelnest. Also beruhigte ich mich langsam wieder, drehte mich zu Will um sagte ich ruhig zu ihm: ,,Wir wollen beide unsere Handys zurück. Wir müssen uns beide zusammenreißen. Ich würde vorschlagen, dass wir uns nicht mehr gegenseitig provozieren. Dazu zählt auch, dass du mich nicht mehr Prinzessin nennst." Will überlegte einen Moment. ,,Ok. Ich verspreche, dass ich dich nicht mehr Prinzessin nenne." Ich war überrascht von seinem schnellen Einverständnis und war davon überzeugt, dass ich das mit Vorsicht genießen sollte. Will hielt mir seine Hand hin und ich zögerte diese zu ergreifen. ,,Wir haben also einen Deal?", fragte ich vorsichtig. ,,Ja, haben wir", sagte er und sah mir in die Augen. Ich musste musste mich zusammen reißen um nicht in seinen Blick zu versinken. Zögerlich ergriff ich seine Hand und mit diesem Handschlag besiegelten wir unseren Packt gegen Leanne und Lil.

Euphoria (Abgeschlossen)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt