Rot. Das war alles, was ich sah, als ich wieder zu mir kam. Ich brauchte eine ganze Weile, bis mein Gehirn soweit auf Touren war, dass ich begreifen konnte, warum ich nur rot sah, egal wohin ich meinen Kopf wandte: Es war das Innere meiner Augenlider. Ich versuchte, meine Augen zu öffnen, was mir nicht so ganz gelingen wollte. Ich versuchte es gefühlt eine halbe Stunde, bis ich sie schließlich einen Spalt breit öffnen konnte. Licht stach in meine Augen und ich brauchte eine Weile, bis ich mich daran gewohnt hatte und meine Augen sich scharf gestellt hatten. Dann konnte ich sie ganz öffnen. Der gedampfte Aufschrei einer Frau, nein eines Mädchens, drang zu mir durch. Ich konnte nicht verstehen, was sie schrie, aber es veranlasste mich dazu, mich aufzurichten, nur um sogleich von einer festen Umarmung wieder umgeworfen zu werden. Ich erkannte Lils blonden Haarschopf und erwiderte ihre Umarmung. Langsam drangen die Geräusche wieder ungefiltert zu mir durch und ich konnte Lils geschlurztes Gemurmel verstehen. ,, ...mir solche Sorgen um dich gemacht! Was machst du nur für Sachen!? Ich bin froh, dass du wieder unter den Lebenden weilst!" Ich war etwas verwirrt. ,,Lil was ist passiert? Wie lange war ich weg?", fragte ich sie.
Meine Stimme hörte sich fremd an. Irgendwie ein bisschen höher und viel melodiöser, als meine Eigene. Es war, als würde ich mit der Stimme einer Anderen sprechen. Generell fühlte sich mein ganzer Körper komisch an: Meine Beine fühlte sich so an, als hätte jemand solange daran gezerrt, dass sie länger geworden sind. Meine Brust ist so schwer, als würde fünfzig Kilo daran hängen und meine Arme fühlen sich so an, als hätte sie jemand sie mit einem Beil von meinen Schultern abgehackt, ein Stück rausgetrennt und wieder drangenäht. Mein ganzes Gesicht fühlte sich so an, als ob jemand ein paar mal zu oft draufgeschlagen hätte. Ich schob Lil so weit weg, dass ich ihr ins Gesicht sehen konnte.
,,Ich bin verwandelt, oder?" Lil zögerte und nickte dann. ,,Ja bist du." Ich sah mich in meinem Zimmer nach meinem Spiegel um. Ich brauchte eine Weile, weil er, wie ich feststellte, mit einem dunklem Tuch verhangen war. Ich löste mich endgültig von Lil, holte Schwung, stand auf und meine Beine brachen prompt unter mir zusammen. Lil fing mich noch gerade so auf und bugsierte mich zurück auf mein Bett. ,,Das halte ich für keine gute Idee. Du warst eine Woche bewusstlos. Du hattest ein Sauglück, dass deine Mutter eine Freundin hat, die Ärztin ist und eine Euphoria ist und die hat in den letzten Tage dein Leben gerettet. Deine Verwandlung hat dich beinahe dein Leben gekostet! Mach bitte langsam!", bat Lil mich. ,,Ich... ich wäre um ein Haar gestorben!? Aber... ich dachte, die Verwandlung ist..." (Preisfrage: Was hatte ich über die Verwandlung gedacht?)
Ich stammelte noch ein bisschen vor mich hin, bis ich bemerkte, dass Lil mir gar nicht zuhörte, sondern mit leerem Blick in der Gegend rumstierte. Ich schnipste vor ihren Augen herum, bis ich wieder ihre volle Aufmerksamkeit hatte. ,,Mmh!? Was ist denn los?", fragte sie abwesend. ,,Das Gleiche wollte ich dich gerade fragen." Lil seufzte. ,,Ich hatte echt ne krasse Woche, ok!?", fuhr sie mich auf einmal wütend an, ,,Meine Mutter ist Freitag gestorben, du bist fast abgekratzt, Leanne muss doch in die Psychiatrie, weil sie einfach nicht mit dem Ritzen aufhören kann und Wills ständige Fragen, warum du nicht mehr in die Schule kommst, machen diese Woche nicht gerade leicht für mich, ok!?"
Ich brauchte eine Weile, bis ich ihre Worte verstehen konnte. ,,Grace... deine Mutter ist... tot!?", flüsterte ich entsetzt. In Lils Augen schimmerten Tränen. ,,Ja", wisperte sie mit tränenerstickter Stimme, schluckte den Kloß in ihrem Hals aber tapfer herunter und erzählte, was passiert war. ,,Sie ist Mittwoch auf einmal ins Koma gefallen und ihr Zustand hat sich über Donnerstag dramatisch verschlimmert. Ihre Patientenverfügung sagt, dass sie nicht von Maschinen am Leben erhälten werden möchte, also haben sie mir Bescheid gegeben und am Freitag nach der Schule die Maschinen abgestellt. Sie ist in Frieden gestorben und ich bin froh darüber, dass es so gekommen ist und nicht anders." Ich nahm Lil in den Arm. Sie versteifte sich kurz, erwiderte die Geste aber dann. ,,Es tut mir leid", sagte ich zu ihr und hatte noch nie etwas ehrlicher gemeint, als diese vier Worte.
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Euphoria (Abgeschlossen)
FantasíaEskada, von allen nur Katy genannt, ist eine Euphoria, also jemand, der dafür sorgt, dass die Menschen die Hoffnung nicht aufgeben, egal wie auswegslos die Lage ist. Sie ist dafür verantwortlich, dass es immer einen Ausweg gibt und sie ist nie gesch...