Frische Luft

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-Alice
Meine Schwester stürmt in mein Zimmer. Nur in Jogginghose und BH schaue ich sie verwundert aber auch ein wenig wütend an. "Boah, kannst du nicht anklopfen?" Sie setzt sich auf den Teppich vor meinem Bett und zwinkert mir zu. Was will sie? "Na sag schon! Wie war es gestern?" brüllt sie schon fast und zeigt ihr bestes Honigkuchenpferdegrinsen. "Es war.. ziemlich gut." Meine Schwester war nicht der größte Fan von den Jungs, aber sie weiß genau, wie sehr ich schon von Beginn an für Henning geschwärmt habe. "Mehr hast du nicht zu sagen? Na komm schon. Hattest du einen guten Platz? Konntet ihr euch unterhalten nach dem Auftritt? Aliiiiiiiiice?!" Ich starre sie kurz an und beginne zu erzählen. Den Teil am Ende lass ich wohl lieber aus. Sie muss ja nicht alles wissen. Emma ist zwar nur zwei Jahre jünger als ich, petzt aber genau so gut wie eine 5 Jährige im Kindergarten. Fast hätte ich vergessen, mich weiter anzuziehen. Ich greife ein altes Shirt von meinem Vater aus dem Schrank und schmeiß es mir über. Ich setze mich zu Emma auf den Boden und wir fangen beide unkontrolliert an zu lachen.

-Henning
Sie kommt mir immer näher. Meine Lippen sind zu einer harten geraden Linie zusammengepresst. ,,Fass. Mich. Nicht. An.", zische ich ihr zu. Doch sie lässt sich nicht beirren und kommt meiner Gürtelschnalle mit ihrer Hand, die zunächst auf meiner Brust lag, überraschend schnell nahe. Ich kann den Gedanken nicht unterdrücken. Werde ich gleich vergewaltigt? Meine Gedanken rasen genauso wie mein Herz. Ihre grazilen Finger streichen über die Bartstoppeln an meiner Wange. Ich bin wie erstarrt und kann mich nicht bewegen. Sie presst ihren Mund auf meinen. Und genau dann wird ein Hebel umgelegt. Ich packe ihre Hand, die schon fast meinen Gürtel erreicht hat, und schiebe sie entschieden weg. Doch sie ist entschlossen und stärker als sie aussieht. Mit einem Funkeln in den Augen kommt sie mir wieder näher. ,,Das hättest du nicht tun sollen." Sie reißt mich wieder zu sich und drückt ihre Lippen erneut auf meine. Ich muss einen Würgereiz unterdrücken. Bitte lass es gleich vorbei sein. Bitte. Doch dann taucht wieder Alice' Gesicht vor meinem inneren Auge auf und neue Energie flutet meine Muskeln. Entschieden stoße ich das Mädchen von mir, packe sie an den Oberarmen und drängel sie aus der Tür. Peng. Die Tür fällt ins Schloss. Wütend trommelt sie von außen mit den Fäusten dagegen, doch sie kann nicht mehr rein. Erleichtert lasse ich mich an der Tür herabsinken.

-Alice
10 min langes Gelächter später grinsen wir uns ein wenig fertig an und Emma verlässt das Zimmer. Ich schmeiße mir meine Jacke über und schnappe mir mein Handy. Schnell noch die Kopfhörer in die Tasche stopfen und ich bin fertig. Ein Spaziergang wird dich auf andere Gedanken bringen. Ich wollte gerade zur Tür raus, als sich Papa davor stellt und fragt, wo ich denn bitte an einem Sonntag Nachmittag hin möchte. "Ich.. Ich... ich habe keine Tampons mehr und muss schnell zur Tankstelle. Sind das genug Informationen?" Etwas verdutzt schaut er mich an, aber er hat's mir abgekauft. Ich reiße meinen Schlüssel vom Schlüsselbrett und springe aus der Tür. Während sich die Tür schließt höre ich, wie mein Vater zu meiner Mutter sagt: "irgendwas verheimlicht sie uns do-" Die Tür schließt sich und ich sprinte die Treppe runter. Ich stopfe mir fast hilflos die Kopfhörer ins Ohr und verlasse das Haus. .. but if you're leavin', why don't you leave me? Why do you stay on my mind? Ich lasse mich von der Musik fast wie in Trance versetzen und es beginnt zu regnen.

-Henning
Ich muss hier raus... Frische Luft schnappen. Meine Gedanken verdrängen. Schnell hinterlasse ich den Jungs einen Zettel, worauf steht, dass ich schon gefrühstückt habe und jetzt eine Runde rausgehe. Ich stopfe Handy und Schlüssel zurück in meine Jeans, stecke mir Kopfhörer ins Ohr, Ziehe eine Jacke über und betrete den Regen. Ich werd' jede meiner Niederlagen feierlich auf Händen tragen. So kaputt kriegst du mich nie, das schaff' ich nur ganz alleine. So kaputt kriegst du mich nie, das schaff' ich nur ganz alleine. So viel Stolz muss sein. Ich summe den Text mit und fühle, wie der Regen mein Haar benetzt und genieße die frische Kühle auf der Haut.

-Alice
Ob er gerade an mich denkt? Ach vergiss es. Der Regen wird immer stärker und ich überlege, wieder zurückzugehen. Doch dann erweckt etwas meine Aufmerksamkeit. Ich bin anscheinend schon ziemlich lange unterwegs, sonst wäre ich nicht dort, wo alles gestern begann und leider wieder endete. Ich stehe vor der Konzerthalle und starre auf das Schild. Sie haben es noch nicht geändert. ANNENMAYKANTEREIT, SAMSTAG, 20 UHR. May. Henning May. Was hast du nur mit mir gemacht? Plötzlich werde ich angerempelt. Ein älterer Herr beschwert sich, warum ich denn hier so dumm im Weg rumstehe. "Entschuldigung." ist alles was ich heraus bekomme. Meine Stimme hat wohl doch etwas mehr gelitten als erwartet. Ich überquere die Straße und setze mich auf eine Bank, die Dank eines großen Baumes trocken geblieben ist.

-Henning
Und dann sehe ich sie. Ja, tatsächlich. Ich traue meinen Augen selbst kaum. Wie sie da sitzt, genauso wie gestern auf dem Plastikstuhl. Alleingelassem, zerbrechlich, wie aus Porzellan. Sollte ich zu ihr gehen oder unbemerkt bleiben? Ich entscheide mich für ersteres und nähere mich von rechts der Bank. Sie scheint in der Musik versunken zu sein, die sie gerade hört. Ich lächel bei dem Anblick ihrer Hand, die ihre widerspenstigen dicken Haare hinters Ohr streicht. Sie ist wunderschön. Und diesmal mache ich mir keine Gedanken darum, warum ich einen solchem Gedankengang habe, sondern lass mich einfach treiben von diesem Hochgefühl. Als ich plötzlich ernüchtert feststelle, dass sie mich bemerkt hat und ziemlich schockiert mustert, als wäre ich ein Parasit. Ihr verträumter Blick weicht einem überraschten, leicht ablehnenden Ausdruck. Ich bin verunsichert. Sehr verunsichert. Fragend lege ich den Kopf schief.

Das Porzellanmädchen [✔]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt