der Brief

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-Henning
,,Hmmm... Keine Ahnung.", murmle ich, während sie mit einem breiten Grinsen sanfte Küsse auf meinem Hals verteilt. ,,Unseren Song weiter schreiben?", schlage ich vor. Sie nickt begeistert. Wie sehr sie sich darüber freut. Wenn sie nur wüsste, wie glücklich mich diese kleinen Gesten machen.. Gemeinsam verschwinden wir wieder in meinem Zimmer. Auf dem Weg schnappe ich mir die verschlissene Ukulele aus dem Wohnzimmer.

-Alice
Ich greife nach dem zu Boden gegangenen Notizbuch. Henning kneift mir beiläufig in den Hintern. "Hey!" Ich drehe mich zu ihm, verschränke die Arme und gebe mir die allergrößte Mühe, böse zu gucken, aber ich kann nicht anders und muss lachen. "Späßchen Häschen." entgegnet mir Henning, während er die Leiter hochkraxelt und sich auf sein Bett schmeißt. Ich lege meinen Kopf auf seinen Bauch und blättere im fast leeren Notizbuch. "Also, wo waren wir?"

-Henning
,,Bis zum Refrain... Glaube ich.", entgegne ich und fahre mit meinen Fingern durch ihre blonden Haare. Ihre Wimpern werfen lange Schatten auf ihre hohen Wangenknochen. Sie sieht aus wie ein Kunstwerk. Das letzte Licht des Tages zieht die Schatten der Möbel im Zimmer lang und taucht ihr Gesicht zur Hälfte in Dunkelheit. Verträumt blättert sie in dem Notizbuch und legt die Seite mit dem Plektrum frei. Ich bemerke ihre aufkommende Nervosität und wie sie hastig weiterblättern will. Meine Hand reißt ihr das Notizbuch weg. ,,Ey, gib das wieder her!", keift sie und langt nach dem Heft, das ich weit von ihr wegstrecke, um lesen zu können. Brief an die Zukunfts-Alice...

-Alice
"Henning!" Ich stütze mich hoch, setze mich auf seinen Bauch und zuppel am Notizbuch. "Du willst das doch eh nicht lesen.." Ich schiebe das Notizbuch nach oben und blicke schmollend sein Gesicht. "Das gibt Rache!" Ich beginne, ihn zu kitzeln, aber der Mann lässt nicht locker.

-Henning
Lachend schiebe ich sie zur Seite und klettere nach unten, um in Ruhe zu lesen. Wohl den großartigsten, liebevollsten, wunderschönsten, talentiertesten Menschen, den du dir überhaupt vorstellen kannst... Manchmal kann ich verstehen, warum ich von allen verlassen werde. Inzwischen ist Alice mir blitzschnell hinterher gejagt und springt an mir hoch, um das Notizbuch zu erwischen. Ich lese mit einer tiefen Falte auf der Stirn weiter. Ich bin's nicht wert. Ihr Gedanke hallt in meinem Kopf wieder. Keiner hat so etwas verdient wie mich. Diesen Müll an Mensch. Der Eintrag ist schnell zuende gelesen. Entgeistert betrachte ich Alice, die meine Sprachlosigkeit ebenfalls bemerkt hat, und nun betreten zu Boden schaut. ,,Was soll das, verdammte Scheiße?", fluche ich mit zusammen gepressten Augen. ,,Fuck!"

-Alice
"Henning..?" Henning springt bestürzt aus der Tür und lässt mich stehen. Schon wieder. Ich schnappe mir das Notizbuch, reiße die Seite aus und drücke sie in meine Hosentasche. Kurz überlege ich, ob ich Henning in die Küche folge, aber ich gehe in die andere Richtung der Wohnung und klopfe an Sevis Tür. "Sevi, bist du da?", flüstere ich in den offenen Türschlitz. Er räuspert sich, aber zeigt mir mit seinem Arm die wohlbekannte "Komm ruhig rein"-Geste. "Sevi.. ich weiß auch nicht, aber.." Ich krame den Zettel aus der Tasche und drücke ihn Sevi in die Hand.

-Henning
Warum? Warum hat schon wieder ein Mensch, den ich liebe, Selbstzweifel? Ich brauche jetzt irgendwie Ablenkung. Mein Blick fällt auf den Aschenbecher in der Küche. Das Feuerzeug flammt auf, die Zigarette ist angezündet. Der Rauch strömt in meine Lungen und verbreitet dieses angenehme Kratzen. Dankbar für die sich ausbreitende Ruhe lege ich den Kopf in den Nacken und schließe die Augen, dennoch treiben meine Gedanken zurück zu Alice und ihrer Selbstwahrnehmung. Diesen Müll an Mensch. Mir ist klar, dass sie diese Zeilen notiert hat, als sie verzweifelt war, dennoch treffen sie mich selber mehr als sie sollten. Warum denkt sie sowas von sich? Tap, tap. Die Asche der Zigarette rieselt in den kleinen, bereits vorhandenen Haufen im Aschenbecher.

-Alice
Severin liest sich meinen Text durch, bei dem ich eigentlich gehofft habe, dass ihn nie jemand zu Gesicht bekommt. Er mustert mich und fängt an, mir eine Geschichte zu erzählen, die in mir sofort Panik hervorruft. Die Geschichte von Henning und seiner Ex-Freundin. Dieselbe Frau, die ich auch im Krankenhaus getroffen habe. Die eigentlich... Ich schlucke. "Sevi, ich wusste doch nicht, dass.. Er hat mir noch nie von ihr erzählt.. Ich wusste das doch alles nicht!" Vor Verzweiflung schlage ich auf den Bettrahmen, auf dem wir beide Platz genommen haben. Schnell bestraft. Ich halte mir die schmerzende Hand und gehe in Richtung Küche. Angekommen lehne ich mich an den Türrahmen und blicke um die Ecke. "Henning, ich wusste doch nicht, dass..", murmle ich und blicke auf die glühende Zigarette in seiner zitternden Hand.

-Henning
Mein Kopf dreht sich ruckartig in ihre Richtung. Zitternd nehme ich einen Zug an der Zigarette. Sie mustert die Droge entgeistert und kommt mit schnellen Schritten zu mir. ,,Davon wird es auch nicht einfacher, Henning..."

-Alice
Ich nehme die Zigarette und drücke sie ihm Aschenbecher aus. "Du musst mir nicht erzählen, was passiert ist. Du sollst nur wissen, das ich da bin, wenn du soweit bist." Ich lege meinen Kopf an seine Schulter. "Alles, was ich will, ist, dass du glücklich bist.. und das bist du im Moment ganz und gar nicht." Reglos sitzt er da und schaut zum Fenster hinaus. "Ich wollte nicht, dass du das liest. Ich musste mir das einfach von der Seele schreiben, versteh' das doch. Du hast mir doch gezeigt, dass ich wohl mehr wert bin, als ich zu glauben schien. DU bist der Grund, warum es mir gut geht. Aber dir soll es auch gut gehen. Mehr als gut." Die Tränen laufen mir die Wange herunter und tropfen auf seinen Pulli.

-Henning
Meine Haut ist kalt und klamm. Trotz des dicken Pullis. Als wäre ich durch den stürmenden Regen gelaufen und würde nasse Kleidung am Leib tragen. ,,Was hat Sevi dir gesagt?", bringe ich in einem Flüstern zustande. Sie zögert, wischt ihre Tränen fort. ,,Nun ja... Von Sophie und-" ,,Das reicht schon. Danke.", murmle ich angesäuert und starre weiterhin aus dem Fenster. Ein Schwarm Vögel zieht vorbei. Ihre Flügel verschwimmen ineinander. Wie die Schicksale und Gedanken der Menschen... ,,Du bist mehr wert als alles andere , Alice. Du bist, du bist... Ja, was bist du, verdammt? Ich will nicht mit diesen miesen Vergleichen und Metaphern anfangen, aber ja!" Mein Blick wandert endlich zu ihren vom Weinen verquollenen Augen. ,,Du bist das, was ich brauche, um glücklich zu sein. Meine Luft zum Atmen, mein Herzschrittmacher, das Blut, das durch meine Adern fließt. Deine Küsse machen die Welt ein Stückchen weniger scheiße."

Das Porzellanmädchen [✔]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt