Lichtermeer

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-Henning
Alice lässt auf dem Weg ihren Koffer fallen und wirft sich dann in meine Arme. Mit Schwung drehe ich sie im Kreis. Unser Lachen schallt über den ganzen Parkplatz. ,,Ich habe dich so vermisst.", flüstere ich, sodass nur sie es hören kann, und vergrabe mein Gesicht in ihren Haaren. ,,Und ich dich erst.", erwidert sie und bekommt wieder festen Boden unter den Füßen. Im Hintergrund nähert sich ihre Familie. Trotz der Beobachter nimmt Alice mein Gesicht in ihre Hände und küsst mich. Meine Arme kriechen unter ihre Jacke und umschlingen ihre Taille. Sie beginnt zu kichern und löst sich schließlich mit einem letzten Knabbern an meiner Unterlippe von mir. I can feel you on my lips all the time... Ihr Vater tritt hinter sie und mustert mich mit einem prüfenden Blick.
,,Wenn du meiner Tochter das Herz brichst, musst du gucken, wo du bleibst.", meint er gespielt ernst.
,,Man Papa!", stöhnt Alice und wird rot. Ich grinse und streiche ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
,,Sie ist sicher bei mir, Sir." Alice' Mutter beobachtet das ganze Szenario mit einem Augenrollen und lädt lieber zusammen mit Emma die Koffer ein, anstatt nur untätig herumzustehen. Ich helfe ihnen. Schließlich sitzen wir zu siebt im Van. Chrissi hat darauf bestanden zu fahren, Alice' Vater hat sich ebenfalls vorne niedergelassen und taxiert nun alles mit einem kritischen Blick, aber da er lächelt, weiß ich, dass er das alles hier eigentlich auch genießt. Alice sitzt neben mir und hält meine Hand. Rechts neben ihr spielt ihre Schwester an einem Nintendo, gegenüber sitzen Sevi und Alva und streiten sich gestikulierend darüber, ob wir erst Cassia oder Adele hören sollten. Und ich sitze mittendrin und kann nicht anders, als die ganze Zeit zu grinsen und durch das Fenster die vorbeiziehende Landschaft zu beobachten.

-Alice
Die anderen sind alle so vertieft in dem, was sie tun.
"Ich bin so glücklich Henning. Und verdammt aufgeregt. Vermutlich noch aufgeregter als ihr. Ich freu mich so für euch! Das wird super!" Ich umschlinge seine Hand mit meinen und fahre über seine Fingerknöchel. "Und nimm meinen Vater bloß nicht zu ernst. Er meinst's eigentlich gar nicht so. Er macht sich ja auch nur Sorgen um mich. Eigentlich mag er dich. Aber pssst. Das weißt du nicht von mir." Ich fange an zu lachen und lege meine Arme schließlich um Hennings Hals. Ich beobachte Mama und Sevi, wie sie immer noch wild rumgestikulieren. Um dem Streit ein Ende zu setzen, reiche ich Papa eine CD. Von allem etwas. "Ich hoffe, das schafft ein wenig Ruhe.", rufe ich stschelnd in ihre Richtung und setze mich wieder zu Henning. Die Stunden fliegen an uns vorbei und Berlin ist greifbar nahe.

-Henning
~ Kurz vor dem Auftritt, Samstag ~
,,Henning? Bist du soweit?", fragt mich der Manager des ganzen Auftritts. Ich nicke abgehackt. Meine Gedanken fliegen hin und her. Adrenalin wird durch meinen Körper gepumpt. Schließlich bleibt das Gedankenkarussell stehen. Es ist alles gut. Alice ist da draußen und wartet auf dich. Du packst das. Das Scheinwerferlicht blendet mich, als ich wie unter Wasser die Ansage unserer Band höre.
,,Und hier sind... AnnenMayKantereit!" Wir betreten zu dritt die Bühne, tausende Menschen jubeln mir zu. Ich kann Alice' Familie und sie selbst zwischen den Menschen nicht finden. Ich trete an das Mikrofon, noch immer furchtbar aufgeregt. Keine Ansage, der erste Song soll einfach so kommen. ,,Und 1, 2, 3, 4!", schreit Sevi, schlägt die Sticks gegeneinander und wir beginnen ,,Wohin Du Gehst" zu spielen. Ich schließe meine Augen und lasse mich treiben. ,,Wohin du gehst, sagst du nicht mehr... Wenn wir uns sehen fällt mir das Fragen schwer."

-Alice
Meine Eltern wippen selbstverständlich hin und her, während Emma und ich lauthals mitsingen. Ich bin überrascht, dass sie sich auf ihre Musik eingelassen hat. Vor ein paar Wochen sah das noch ganz anders aus. Während die Menschenmasse vor uns sich nach links und rechts schiebt, verliere ich den Blick zu Henning. Alles, was ich sehe, sind Lichter und Köpfe fremder Menschen. Ich würde ihm so gerne zeigen, wie stolz ich auf ihn bin, aber schaffe es nicht, mich durch die Menge nach vorne zu quetschen. "Und manchmal sehen wir uns bei Leuten, die wir beide kennen, aber anstatt wegzurennen, schauen wir uns heimlich an..." Genau das können wir grad nicht. Überforderung macht sich breit und ich hänge mich an Emma, um nicht verloren zu gehen.

-Henning
Der Song ist vorbei und ich konnte Alice immer noch nicht entdecken. Ich versuche sie mit der bloßen Kraft meiner  Gedanken zu vermitteln, dass sie das Konzert genießen soll. Doch jetzt folgen erstmal ein paar erste Worte ins Mikrofon: ,,Hallo." Ich komme gar nicht dazu, zu reden, da das Publikum sofort johlt und klatscht. Ich grinse verschmitzt.
,,Also... Wir sind AnnenMayKantereit. Ich bin Henning May, der Sänger. Das ist Severin Kantereit, der Schlagzeuger und Christopher Annen, unser Gitarrist. Das nächste Lied ist für eine Frau. Und eigentlich sollen Liebeslieder ja etwas Schönes sein, aber hier sieht man die andere Seite der Medaille. Viel Spaß mit Pocahontas."

-Alice
"An der Haltestelle stehen und es tut weh dich schon wieder so wiederzusehen. Und es tut weh, dass wir gleich wieder gehen." Das Publikum singt mit. Anders als beim letzten Mal. Da war alles so still. Nur wir beide. Jetzt dröhnt mir der Kopf und ich suche verzweifelt eine ruhige Ecke. Vielleicht schaffe ich es, mich irgendwie bis zum Rand durchzukämpfen und dann einfach nach vorne zu laufen. Dann steh ich halt am Rand, ist doch egal. Ich drehe mich zu meinen Eltern und erkläre ihnen fast schreiend, was ich vorhabe, damit sie sich keine Gedanken machen müssen. In der Hoffnung, sie haben alles verstanden, drücke ich mich durch die engen Gänge zwischen all den vielen fremden Menschen. Am Rande angekommen, hole ich tief Luft und schwenke Richtung Bühne. Ganz vorne steht einer der Fotografen, Martin, der die Jungs schon seit Anfang an begleitet. Eigentlich komisch, dass wir uns noch nicht kennengelernt haben. Etwas ängstlich gehe ich zu ihm und tippe ihm auf sie Schulter. Rasch dreht er sich um. "Hmm?" , entgegnet er mir. "Hi! Ich bin Alice. Ich äh... Also, wir kennen uns noch nicht, aber.. ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Henning und ich, wir äh... Ich habe mich unwohl gefühlt zwischen all den Leuten und dachte, ich könnte mich vielleicht neben dich stellen, oder hier am Rand stehen bleiben.. wenn's okay ist." Martin schaut mich verwirrt an, richtet dann den Blick auf Henning und wieder zurück zu mir.
"Du kannst dich ruhig neben mich stellen, wenn du willst. Die Sache mit Henning musst du mir dann wohl nach dem Konzert nochmal erklären." Hier ist es deutlich ruhiger. Komisch eigentlich. Man muss sich nicht anschreien, um überhaupt ein Wort zu verstehen. Martin rutscht zur Seite, damit ich nicht direkt am Rand stehen muss. Er grinst und richtet seine Kamera wieder auf die Bühne. Ich starre abwechselnd auf das Display und auf die Bühne zu Henning. Ob er mich hier überhaupt sehen wird? War vielleicht doch 'ne doofe Idee. Ich habe den Song komplett verpasst und Henning brummt nun die Anfangstöne von "Jeden Morgen" ins Mikro. Ein Satz trifft mich wieder besonders. "Ich will nicht jeden Morgen von neuem.. letzte Nacht bereuen." Mein Herz macht einen Aussetzer, wie auch schon beim ersten Konzert. Mit meinen Händen forme ich ein Herz und halte es in seine Richtung. Egal, ob er es nun sieht oder nicht. Ich liebe dich.

-Henning
Ich habe die Augen geschlossen und bewege mich zu der Melodie des Liedes. ,,Ich würd' viel lieber von dir träumen...", krächze ich und beende somit das Lied. Das Publikum ist aus dem Häuschen. Der Applaus hält lange an. Mein Blick zuckt vorbei an den vielen Lichtern und Handys zu Martin, der mit seiner Kamera am Rand steht und Bilder knipst , um- Moment, ist das Alice? Sie bemerkt, dass mein Blick auf ihr liegt und lächelt mir zu. Ich lächle leicht verwirrt zurück. Was macht sie da? Wo ist ihre Familie? Als die Jubelrufe und Pfiffe verstummen, nähere ich mich wieder dem Mikrofon.  ,,Der nächste Song heißt 》Nicht Nichts《 und ich verbinde ihn mittlerweile mit einer bestimmten Person. Es gibt eine Zeile in dem Lied, die lautet: Und ich überlege oft, ob ich dir schreibe und ärger' mich, weil ich immer liegen bleibe. Ja, wahrhaftig habe ich häufig überlegt, dir zu schreiben... Und es dann zum Glück getan, sonst wären wir nicht da, wo wir heute sind." Ich schaue Alice tief in die Augen. ,,Du bist die schönste Frau der Welt, Prinzessin. Ich liebe dich. Mehr als alles andere und dieses Lied ist für dich Alice."

Das Porzellanmädchen [✔]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt