Sie lebt

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-Alice
Er hat meine Nachricht immer noch nicht gelesen. Es wird was Schlimmes passiert sein. Scheiße. Was soll ich nur tun? Aus Verzweiflung schreibe ich ihm wieder.
"Henning. Bitte antworte. Ich habe Angst."
"Henning? Bitte..."

-Henning
Sophies Augen fixieren mich wie von ganz alleine. So wie sie es früher schon immer getan haben. Sobald ich einen Raum betreten hatte, wusste sie schon, dass ich da war. Ich stocke, laufe einen Schritt näher und halte wieder an. Daddy schläft. Gut so, er braucht Ruhe. Sophie hält seine Hand. ,,Es tut mir so-" Mit einer harschen Handbewegung unterbreche ich sie. ,,Was tut dir leid, hmm? Dass du meinen Vater ungefahren hast? Dass du lebst? Dass ich wegen dir gebrochen bin?" Ich stehe jetzt vor ihr und packe sie an ihrem Kragen. ,,Also was tut dir leid?!", schreie ich. Sophie wimmert. Meine Arme wollen sie umschließen, aber ich blockiere diesen albernen Instinkt. Viel zu oft war er eine falsche Entscheidung. Ich lasse sie abrupt fallen, sodass sie nach hinten torkelt. ,,Henning..." Sie wirkt verzweifelt. ,,Was willst du hier, Sophie? Wieso lebst du, verdammte Scheiße? War der ganze Depri-Scheiß nur Ablenkung? Lag vielleicht unter dieser Brücke eine weiche Matratze und hat dich aufgefangen? SAG ES MIR!", schreie ich sie an. Sie beginnt zu weinen. Doch nichts tut mir leid. Soll sie weinen. Sie lebt, Henning. Sie lebt seit 3 Jahren. Seit 3 Jahren. Seit dem 5. Juli, an dem sie sich umgebracht hat. Sophie mustert mein Gesicht, meine angespannten Arme und meine pulsierenden Adern am Hals. ,,Lass mich erklären, was passiert ist..." Ich nicke wie in Trance. Alles außer Sophie klinkt sich aus meiner Wahrnehmung aus. Sie lebt. Sie lebt. Sie lebt. Deine Vorwürfe sind unbegründet. Sie sind unbegründet. Unbegründet. Seit 3 Jahren. Seit 3 Jahren. Das Mantra schallt von der einen Seite meines Schädels zur anderen. ,,Ja... Ich lebe. Eine Frau hat mich an jenem Tag unten an der Brücke gefunden. Meine Verletzungen waren nicht tödlich, dafür war die Brücke zu niedrig. Bloß die Kälte wäre tödlich gewesen. Sie hat mich ins Krankenhaus gefahren. Nach zwei Monaten war ich wieder ganz. Aber bloß körperlich. Mental besaß ich nicht die Kraft, dir gegenüber zu treten . Zu sehr schmerzte mich der Gedanke, du könntest meinen Selbstmordversuch als Kleinigkeit abtun, genauso wie meine restlichen Depressionen. Also bin ich fort. Zu meinen Eltern. Weg von Köln. Weg von Erinnerungen. Mit dir."

-Alice
Sollte ich ins Krankenhaus fahren, oder würde das alles nur noch schlimmer machen? Und woher soll ich überhaupt wissen, in welchen er liegt? Egal. Ich fahre. Ich stürze zur Tür, ziehe mich halbherzig an und fahre ins nächstgelegene Krankenhaus. An der Rezeption frage ich nach Herrn May. Ich kenne nicht mal seinen Vornamen.. Ich bin tatsächlich richtig. Unentschlossen bleibe ich vor der großen weißen Tür stehen.

-Henning
Ich nicke. Wieder und wieder. Kann das alles gar nicht glauben. Sie wurde gerettet? Und hatte dann nicht den Mumm mir zu sagen, dass sie lebt? Hätte ich gewusst, dass sie lebt, hätten mich all die Schuldgefühle nicht zerfressen. Mein Herz läge nicht wie ein blutiger Scherbenhaufen in meiner Brust. Sie hat mich eiskalt leiden lassen. ,,Geh jetzt bitte, Sophie." Sie weiß, dass ich ihr weh tue, wenn sie jetzt nicht verschwindet. ,,Meine Nummer liegt auf dem Tisch... Wegen Schuld beim Unfall oder Sonstigem...", meint sie und verzieht sogleich ihr Gesicht. Sie geht. Endlich. Ich setze mich neben Papa und halte seine Hand. Du musst das jetzt durchhalten, Papa.

Rückblick:
Es war ein herrlicher Morgen. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, kitzelten mich an der Nase. Zufrieden öffnete ich meine Augen. Das Bett neben mir war leer. ,,Sophie?", rufe ich in den Flur der Wohnung. Keine Spur von ihr. Schlaftrunken tapse ich in die Küche und sehe einen Briefumschlag auf dem Küchentisch liegen. Verwirrt trete ich näher. Henning prankt dort in fetter Schrift. Mir wird schwindelig. Rasch reiße ich den Briefumschlag auf. Darin steckt ein schwarzes Papier beschrieben mit weißen Buchstaben. Buchstaben , die sich zu Wörtern und Sätzen aneinander reihen, die vor meinen Augen verschwimmen... ,,Hallo Henning. Es war zu viel. Die Welt schien mich nicht mehr zu verstehen. All das Leid konntest du leider nicht wahrhaben und bekämpfen. Also muss ich mich selbst erlösen. Ich werde Frieden finden. In dem schwarzen Loch der unendlichen Einsamkeit. Im Tod.
Ich liebe dich. Sophie." Mir wird schwarz vor Augen.

-Alice
Eine mir unbekannte Frau reißt die große Zimmertür auf und stürmt an mir vorbei. Sie sieht nicht sonderlich glücklich aus.. Ist das wirklich das richtige Zimmer? Es wäre einfach, das Zimmer zu betreten um dieser Sache auf den Grund zu gehen, aber der große Feind, "die Angst", steht mir im Weg. Aus Höflichkeit schließe ich die Tür und schwanke zum Wartezimmer. Mir ist ein wenig schwindlig.

-Henning
Aus Sorge um Alice checke ich mein Handy und entdecke tatsächlich drei Nachrichten von ihr. Sie macht sich Sorgen. Ich schreibe ihr:
,,Könntest du zum Krankenhaus kommen? Ich bräuchte gerade echt etwas Beistand. Und nein,  es ist nicht alles gut gegangen, aber dazu mehr, wenn du hier bist.
Ich liebe dich auch.
Henning"
Sevi sitzt mittlerweile neben mir und hat einen Arm um meine Schulter gelegt. ,,Chrissi will auch gleich mit Tim und Markus kommen." Er lächelt mir beruhigend zu und ich nicke kläglich. Sevi war bei meinem ,,Gespräch" mit Sophie draußen und hat erstmal keine Fragen gestellt, obwohl er wusste, dass Sophie diejenige war, die Papa angefahren hat und seit 3 Jahren vortäuscht tot zu sein. Er konnte sich meine Reaktion sicherlich denken. Aber ich bin ihm dankbar für seinen Trost und dafür, dass er mich erstmal mit Fragen in Ruhe lässt, obwohl er sicherlich auch wissen will, woher Sophie auf einmal kam. Er kennt ja die Geschichte um sie, hat alles live miterlebt. Das Kennenlernen, ihre Depressionen, meine Zweifel daran und schließlich ihren Tod und meine tiefen Schuldgefühle und der Selbsthass.

-Alice
Eine Nachricht von Henning. Ich soll kommen. Gut, dass ich schon hier bin. Ich laufe zurück zum Zimmer und öffne leise die Tür. Henning und Sevi knien am Bett, während die Apparate ihre unschönen typischen Krankenhausgeräusche von sich geben. Ich setze mich neben Henning und beobachte seine Hand, die liebevoll auf die seines Vaters ein undefinierbares Muster zeichnet.

Das Porzellanmädchen [✔]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt