Krisensitzung

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-Alice
Ich ziehe meine Hose an und schmeiße mir, während ich den Bandraum bereits verlasse, den Pulli über. Ich knalle die Tür zu und schreie: "Was ist dein scheiß Problem?" Ich renne die Treppe hinunter und mir schießen sofort die Tränen ins Auge. Arschloch. Ohne wirklich darüber nachzudenken, laufe ich über die Straße und komme unserer Einfahrt näher. Sie ist offen, dann muss ich immerhin nicht nach meinem Schlüssel... Scheiße! Ich habe meine Tasche vergessen, samt Handy und Schlüssel. Wütend schlage ich gegen die Hauswand und laufe schmerzverzerrt die Stufen im kalten Treppenhaus hoch. Vor unserer Haustür stoße ich erneut ein lautes "SCHEIẞE" aus und rutsche an der Wand hinunter auf den Boden und fange an zu weinen. Was kannst du eigentlich?v5 Minuten später öffnet sich unsere Tür und Emma schaut mich verdutzt an. Ich stampfe an ihr vorbei und lasse den Riegel meiner Tür laut und deutlich ins Schloss fallen. Warum tust du mir das an? Warum tu' ich mir das an?

-Henning
Nachdem Alice die Tür hinter sich zugeknallt hat, reibe ich mir über die Augen. ,,Was ist eigentlich dein scheiß Problem?" Das würde ich dich gerne fragen...? Ich hatte also schon viele Frauen im Bett, ja? Immer wieder schön, als leicht zu haben bezeichnet zu werden. Ich bemerke ihre Tasche, die neben mir auf dem Boden liegt. Die kann sie sich ja selber holen nach dieser Nummer... Bin ich so schlimm...? Habe ich irgendetwas falsch gemacht, was sie so aufgeregt hat? Ich dachte eigentlich, alles wäre in Ordnung... Ich sammle mein Zeug zusammen und nehme ihre Tasche mit, schließe ab und verlasse den Bandraum. Zuhause angekommen, rausche ich an Tim und Markus vorbei, die auf der Couch sitzen. ,,Hey Henning, und wie war's?" Meine Tür knallt hinter mir zu, ohne dass ich eine Antwort auf ihre Frage gebe. Scheiße. Sehr scheiße. Ich wurde von meiner Freundin als Schlampe bezeichnet. Toll, oder?

-Alice
Um nicht vollkommen auszuflippen, schreibe ich mir alles von der Seele: "Liebe Zukunfts- Alice. Ich hoffe, du weißt mittlerweile, wie man mit Menschen umzugehen hat. Denn die Vergangenheits-Alice kann's auf jeden Fall nicht. Ich erzähle dir jetzt eine kleine Geschichte. Ich habe jemanden kennengelernt. Wohl den großartigsten, liebevollsten, wunderschönsten, talentiertesten Menschen, den du dir überhaupt vorstellen kannst. Und ich hab's mächtig verschissen. Ich habe ihn vertrieben und das nicht nur einmal. Manchmal kann ich verstehen, warum ich von allen verlassen werde. Ich bin's nicht wert. Kein Mensch hat so etwas verdient wie ich. Diesen Müll an Mensch. Es ist wohl mein Schicksal, allein zu bleiben. Egal, wie sehr ich es auch versuche, ich bekomme es einfach nicht auf die Reihe. Diese Portion Selbsthass hat mir wirklich noch gefehlt. Vielen Dank auch!

Ich hoffe, deine Zukunft sieht rosiger aus.
die beschissene Vergangenheits-Alice. 

Ich klebe das unterschriebene Plektrum in der Ecke der Seite und schmeiße das Notizbuch in die Ecke. Du hast ihn eh nicht verdient. Wie schon Tage zuvor, muss ich mich auch heute in den Schlaf weinen, um überhaupt ein wenig Ruhe zu finden.

-Henning
Erschöpft von all den Worten, die mir an den Kopf geschleudert wurden, lasse ich mich auf mein Bett fallen und schlafe nach ewigem Hin- und Herdrehen und tausend Gedankenflüssen um halb zwei ein.

-Alice
Fast wie verkatert werde ich am nächsten Morgen wach. Der Blick meiner Mutter schreit wieder "FRÜHSTÜCK". Mein Vater liest wie jeden Morgen seine Zeitung. Der Alltagstrott holt mich ein und ich vergesse fast, was gestern geschehen ist. Bis Emma sich neben mich setzt und mir ins Ohr brüllt. "Sag mal, was war gestern eigentlich schon wieder mit dir los?" Du musst nicht gleich so schreien verdammt. "Das kann dir doch egal sein." Ich stochere mit der Gabel im Rührei herum. Papa wirft meiner Mutter einen verwunderten Blick zu, den sie 1 zu 1 kopiert, um mich genau so anzuschauen. "Ich hab dir gestern Abend geschrieben. Du hast gar nicht geantwortet." Ich lasse die Gabel fallen. "Ich hab mein Handy im Bandraum vergessen. Ich werde es abholen, wenn.." Etwas zu laut schiebe ich den Stuhl nach hinten und renne zurück in mein Zimmer. Sie haben deinen Nerv getroffen. Erneut. Ich kann ihre Stimmen noch hören. Wie sie sich fragen, was denn jetzt schon wieder passiert ist. Ob Henning doch nicht der Richtige für mich ist. Ob Henning doch nicht der Richtige für mich ist..? Dieser Gedanke lässt mich erschaudern.

-Henning
Meine Haare kitzeln mich an der Nase, als ich aufwache. Zu wenig Schlaf... Meine Schläfen pochen und es scheint, als würde ein kleiner Mann in meinem Kopf mit einem Hammer immer wieder gegen meine Schädeldecke donnern. Stöhnend drücke ich mein Kissen auf mein Gesicht. ,,Steh auf, Henning. Es gibt Frühstück." Murrend schwinge ich meine Beine aus dem Bett und werfe Chrissi, der mich geweckt hat, einen tödlichen Blick zu. ,,Was machst du überhaupt hier?", frage ich und reibe mir über die verschlafenen Augen. Mein Spiegelbild schaut mich mit leerem Blick und tiefen Augenringen an. Waschbär. ,,Tim meinte, du wärst gestern Abend total verärgert gewesen und dass wir eine Krisensitzung abhalten sollten..." ,,Krisensitzung? Aha." Ein frisches T-Shirt ist schnell angezogen und zusammen mit Chrissi setze ich mich zu den anderen dreien an den Tisch. ,,Morgen..." Sevi nickt mir zu, Markus schmiert weiter sein Brot und auch Tim würdigt mich keines Blickes. ,,Was is'n mit euch los?", murre ich und nehme mir ebenfalls ein Brötchen. ,,Das würden wir gerne von dir wissen. In den letzten Tagen hast du kaum ein Wort geredet, warst immer weg und das haben wir auch akzeptiert, aber nach gestern verlange ich eine Erklärung!", meint Tim und mustert kritisch meine roten Augäpfel. Ich seufze. Eigentlich kann ich das alles nicht mehr für mich behalten... Und dann beginne ich zu erzählen. Von der Begegnung beim Konzert, unserem zufälligen Zusammentreffen draußen am Tag danach, diese besondere, innige Umarmung im Park, meine Gefühle dabei, wie sie danach bei mir zuhause auf meiner Schulter eingeschlafen ist, das gemeinsame Vorspielen eines Songs, der uns berührt, mein Zusammenbruch, unser Tanz und der Kuss im Park am Morgen danach, das Vorstellen bei ihren Eltern, der Unfall meines Vaters, die Begegnung mit Sophie, der Moment, als Papa sie kennengelernt hat, Alice' Beistand, dann noch als ich sie nach Hause getragen habe, unser Date, die Küsse und Berührungen lasse ich weg, aber von dem Geschenk ihres Vaters erzähle ich noch und von dem Anfang des gemeinsamen Songs bis zu ihrem aufdringenden Verhalten, den verletzenden Worten und die anschließende Funkstille zwischen uns. Dann verstumme ich.

-Alice
Der Tag scheint elendig lang zu sein, bis mir bewusst wird, dass ich ziemlich Scheiße gebaut habe. Ich weiß zwar nicht, was in diesem Moment überhaupt in meinem Kopf vor sich ging, aber es war definitiv nicht gut. Ich beschließe, mich auf den Weg zu seiner WG zu machen. Egal, ob er nun da ist oder nicht. Zur Not erklärst du es Tim, oder Sevi. Etwa 20 Minuten später stehe ich vorm Klingelschild und zögere. Im selben Moment öffnet sich die Tür vor mir und ein älterer Herr kommt mir entgegen. Sicherlich ein Nachbar. Gefühlte 300 Treppenstufen später, stehe ich vor der alten hölzernen Tür. Ich klopfe.

-Henning
Ihre Reaktionen fallen alle ziemlich ähnlich aus. Sie trösten mich, meinen, dass das sicher wieder wird und es sich ja bisher nicht schlecht anhöre. Ich nicke leidend.
Den Rest des Tages verbringe ich in meinem Bett, schlage die Zeit tot, bis es plötzlich an der Tür klopft. ,,Ich gehe schon!", meint Chrissi und öffnet die Tür.

-Alice
"Hey Chrissi. Ist Henning da? Ach, er will bestimmt eh nicht mit mir reden. Jedenfalls hab ich ziemlich Scheiße gebaut und wollte mich bei ihm entschuldigen.. wenn er meine Entschuldigung denn auch annimmt. Ich würde auch verstehen, wenn er nichts mehr mit mir zu tun haben will." Chrissi versucht mich zu unterbrechen, aber die Worte fließen und er kommt nicht zu Wort. Wieder diese typische Chrissi-Blick. "Ich weiß ja nicht, ob ihr drüber gesprochen habt, aber.." Chrissi bittet mich herein. "Setz dich doch erstmal, dann reden wir weiter."

-Henning
Ich höre wie Chrissi mit Alice spricht. Ja, ich möchte wahrhaftig nicht mit dir reden... Ich weiß, dass es ein Stück weit kindisch ist, diese ,,Macht" so auszunutzen, aber ich kann nicht anders. Die Schnitte, die mir ihre Anschuldigungen zugefügt haben, sind zu tief. Sie setzen sich ins Wohnzimmer. Anschließend öffnet der Gitarrist meine Tür. ,,Henning...? Hier ist Alice und sie wollte sich ent-" ,,Ich weiß.", unterbreche ich ihn harsch, ,,gib mir einen Moment. Ich weiß noch nicht, ob ich das jetzt kann."

Das Porzellanmädchen [✔]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt