Alice' Freund

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-Alice
Mehr als "Das ist okay." bekomme ich nicht raus. Ich drücke seine Hand noch fester, als würden mich tierische Schmerzen durchfahren und lege meinen Kopf an seiner Schulter ab. Dieses Bild kennen wir doch, Alice. Wir schweigen uns an und ich weiß nicht, ob ich diese Ruhe beklemmend finde, oder ob sie in diesem Moment genau richtig ist. Wir beide werden immer langsamer. Die Kälte legt sich auf unsere Köpfe und entzieht uns einiges an Kraft. Ich zögere, aber schlussendlich breche ich die Stille. "Ich weiß nicht, ob es gerade das Beste wäre, wieder in deine Wohnung zu gehen. Wir haben wohl beide im Moment zu viele schlechte Erinnerungen daran, aber wir können gern zu mir gehen.. nur wenn du willst. Allerdings musst du dich dann auch meiner Familie stellen. Habe ich gerade wirklich vorgeschlagen, dass wir zu mir gehen? Aber keine Angst. Sie beißen nicht." Ich zwinge mir ein Lächeln auf und das große Fragezeichen über meinem Kopf ist mir deutlich anzusehen.

-Henning
Ihr ,,Das ist okay." sagt mir mehr als tausend Worte, genauso wie ihr ermutigendes Drücken meiner Hand. Mir fällt eine schwere Last von den Schultern. Ach was, wohl eher ein ganzer LKW.
Als sie die Stille unterbricht und ich ihren Worten lausche, traue ich als erstes gar nicht meinen Ohren. Sie will mich ihren Eltern vorstellen? Als ich ihre fragenden Augen bemerke, nicke ich zustimmend. ,,Sehr gerne, und ja, ich denke auch, es ist besser, wenn wir heute nicht zu mir gehen." Sie lächelt erleichtert, nimmt meine Hand fester in ihre und führt mich einen unbekannten Weg entlang bis zu einem Block mit vielen Wohnungen. Wir hasten gemeinsam die Treppen hoch, bis wir vor einer Tür mit Spion außer Atem stehen bleiben. Sie wird nervös, ich sehe es ihr an und ihre Gedanken scheinen sich zu überschlagen. Ich lächel ihr ermutigend zu und sofort hört sie auf, auf ihrer Unterlippe rumzubeißen und von einem Fuß auf den anderen zu treten. Sie klingelt.

-Alice
Ich war lange nicht mehr so nervös. Na gut, war ich schon. Am Tag des Konzertes zum Beispiel, oder am Tag danach, als wir uns im Park trafen. Ich drückte die Klingel und ünerlegte mir, was ich wohl am besten sagen könnte. Mein Vater öffnet die Tür und schaut erst mich und dann Henning fragend an. Er bittet uns hinein und wir bleiben angewurzelt im Flur stehen. Mit einem Mundwinkelzucken werde ich meinem Vater einen Blick zu, den er nur allzu gut kennt. Henning und er schauen sich an, wie zwei Männer, die sich im Krieg gegenüber stehen. Nennen wir es bestimmt. Fuck. Meine Mutter betritt den Flur. "Oh Alice, schön dass du wieder - oh, hallo." Sie reicht Henning ihre Hand. "Ich bin Alva. Nett dich kennenzulernen." Sie wirft Henning ihr schönstes Lächeln zu. Ich hole tief Luft. Mein Vater ist zurück ins Wohnzimmer und ich weiß genau, was für ein Gespräch jetzt folgen wird. Wer ist er? Wo habt ihr euch kennengelernt? Ist er dein neuer Freund? Nimmt er Drogen? Nimm dich in Acht, Männer wollen nur das eine... Ich weiß, er meint es nur gut und ich liebe ihn dafür, dass er so besorgt um mich ist. Ich könnte mir keinen besseren Vater vorstellen, aber diese Fragen müssen echt nicht sein. "Ihr könnt eure Sachen auf die Garderobe legen.", sagt Mama, während sie sich auf den Weg in die Küche macht. Für sie ist jetzt genau der richtige Zeitpunkt, für Schweden typisches Gebäck zu servieren und Kaffee zu kochen. Ich trinke nicht mal Kaffee. Henning und ich schmeißen unsere Jacken auf die Garderobe, kicken die Schuhe in die Ecke, schauen uns ein wenig verzweifelt und machen uns auf den Weg ins Wohnzimmer. Mir schießt sofort ein Ohrwurm in den Kopf. Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer. Ich muss lachen.

-Henning
Als wir das Wohnzimmer betreten, mustert mich Alice' Vater erneut kritisch. Ihre Mutter war überraschend nett und hat erstmal keine Fragen gestellt, trotzdem habe ich jetzt etwas Angst davor, was nun kommt und auch ein bisschen vor den kommenden Fragen.. Ich habe bisher noch kein Wort in dieser Wohnung gesagt, doch das wird sich jetzt ändern... ,,Also Alice... Du hast uns sicher viel zu erzählen." Alice schießt die Hitze sofort in die Wangen und sie öffnet gerade den Mund, als ich ihr zuvor komme: ,,Ich bin Alice' Freund und ja, ich werde gut auf sie aufpassen." Überrascht von meiner Initiative zieht ihr Vater die Augenbrauen hoch.. ,,So so...", murmelt er. Alice' Mutter steckt den Kopf ins Wohnzimmer und schaut mich schockiert an. ,,Hast du gerade geredet?" Ich nicke verständnislos. ,,Okay." Sie grinst und beugt sich zu Alice, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern, aber ich kann dennoch einen Fetzen verstehen. Was kommt denn jetzt...?

-Alice
Hat er gerade Alice' Freund gesagt? Mein Freund. MEIN FREUND. Ich laufe vor Peinlichkeit rot an und blicke in Hennings Gesicht. Er hätte wohl gerade besseres zu tun, als sich meinen Eltern vorzustellen. Mama tritt an mich heran und flüstert mir etwas ins Ohr, während ich merke, wie sich die Tür zu Emmas Zimmer öffnet. Alles, was ich verstehe, ist: Glücksgriff. Ja. Glücksgriff. Ich weiß. Ich grinse und würde es gern hinter meinem Schal verstecken, aber dieser hängt ja auch an der Garderobe.

-Henning
Ich lächle Alice beruhigend zu, während eine etwas jüngere Ausgabe von ihr im Türrahmen zu einem Zimmer erscheint. Diese mini Alice reißt erschrocken die Augen auf und starrt von Alice zu mir. ,,Warte... WARTE! bitte was??? Ist das nicht Henning? Von AnnenMayKantereit? DEIN FREUND?? Was bitte habe ich verpasst?", schreit sie fast und kann ihren Mund immer noch nicht vor Erstaunen schließen. ,,Joa... Scheint so zu sein." Ich grinse über die ganze Situation, während Alice neben mir anscheinend vor Peinlichkeit im Erdboden verschwinden will. Wenn das möglich ist, wird ihr Gesicht noch röter. ,,Krass... Echt krass. Warum hast du mir nie gesagt, wie gut er aussieht Alice? Wolltest ihn nur für dich oder wie?" Alice' Schwester lächelt mir aufrichtig zu, ich lächle zurück und bemerke kurz danach, dass ich das nicht hätte tun sollen, denn jetzt wirft Alice ihrer kleinen Schwester böse Blicke zu.

-Alice
Emma und ich haben ein ziemlich gutes Verhältnis zueinander. Wir sind beste Freunde. Ich kann ihr so gut wie alles erzählen. Aber warum muss sie jetzt so dumme Witze reißen? Sie weiß doch, wie ich in solchen Situationen reagiere. Emma deutet meinen Blick wie keine andere und entschuldigt sich prompt bei mir. Ich habe keinen Grund, eifersüchtig zu sein, aber ich habe zu sehr Angst davor, dass mir das alles in Windeseile wieder genommen wird. "War nicht so gemeint.", richte ich ihr mit einem total wirren Handgefuchtel aus. Mama tischt schwedisches Gebäck und Kaffee auf. Mit einem fast erdrückenden Lächeln gibt sie Henning das Zeichen fürs "ESSEN FASSEN!". Sie schmeißt unseren Plattenspieler an und legt Elvis auf. Sie weiß, wie sehr ich Elvis liebe. Ich komme langsam runter und nehme Hennings Hand. Fühlt sich gar nicht mehr so komisch an..

Das Porzellanmädchen [✔]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt