Tränen

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-Alice
Henning steht vor mir. Bist du dir sicher, dass er das tut? Er mustert mich und legt seinen Kopf schief. Genau, wie er es gestern getan hat. Ich zuppel mir die Kopfhörer aus den Ohren und schaue ihn an. Diese Ruhe hat eine unglaubliche Kraft, aber sie gefällt mir nicht. Ich rücke zur Seite und gebe ihm ein Zeichen, dass er sich doch neben mich setzen soll. Er sieht total fertig ist? Und müde. Sollte ich ihn fragen, ob alles okay ist? Er nimmt Platz, aber löst seinen Blick keine Sekunde von mir ab. Seine Augen verraten mir alles und nichts. Sag was! "Hen-" Er fällt mir ins Wort.

-Henning
,,Alles okay?", frage ich im selben Moment, in dem sie anfängt meinen Namen zu sagen. Sie schüttelt den Kopf. Warte was?! Ich mustere sie lange. ,,Was ist los?" , Frage ich, obwohl ich gerade eigentlich mehr als genug Probleme selber habe. Sie bleibt stumm. ,,Alice?" Ihre Augen tasten mein Gesicht ab und bleiben bei meinen Lippen hängen. Schnell senkt sie wieder den Blick. ,,Also ich...", fängt sie an...

-Alice
"Also ich.. ich weiß nicht, wie ich das jetzt sagen soll. Du hältst mich sicherlich für vollkommen bescheuert, aber.. Sag's einfach! du hast mir gefehlt. Ich habe jede Sekunde nur auf deine Nachricht gewartet. Ich wollte so sehr von dir hören, dass ich fast den Rest der Welt komplett vergessen habe. Ach.. das ist doch absurd. Warum erzähle ich dir das überhaupt? Du... Du bist Henning May. Was willst du mit mir? Du hast so viele Chancen, die solltest du sicherlich nicht an mir verschwenden. Vergiss, was ich gesagt habe, okay? Es war nur... ach, ich weiß auch nicht, was es war oder ist. Verkackt. Ich wollte mich vermutlich einfach nur noch mal bei euch bedanken für den tollen Abend gestern. Das werde ich nie vergessen!"  Ich stehe auf und gehe. Diesmal drehe ich mich nicht nochmal um. Es würde zu sehr schmerzen. Du bist ein Idiot, Alice! eine einzelne Träne läuft mir die Wange herunter und ich spüre den kalten Wind in meinem Gesicht.

-Henning
Perplex verfolge ich ihren Wortschwall. Du hast mir gefehlt... Ich habe jede Sekunde auf deine Nachricht gewartet... Ich wollte so sehr von dir hören, dass ich fast den Rest der Welt komplett vergessen habe. Hatte sie das gerade echt gesagt? Und warum sollte ich kein Interesse an ihr haben? Sie steht auf, dreht sich um und geht. Einfach so. Als hätte sie mir gerade nicht das gestanden, was ich ebenfalls die ganze Zeit empfand. Sie mag dich Henning! Ich freue mich wie ein kleines Kind und gleichzeitig ertrage ich diese Freude nicht, da ich nicht weiß, was sie bedeutet. Mag ich sie? Ja. Kenne ich sie wirklich? Nein. Ich springe auf. Ich sprinte ihr hinterher, sodass ich vor ihr stehen bleibe und sie selber zum Anhalten bringen kann. Sie mustert mich mit großen Augen. Mit dem Daunen Wische ich die einzelne, verloren wirkende Träne unter ihrem Auge fort.

-Alice
Seine Hand in meinem Gesicht brennt wie Feuer. Aber er ist mir nachgelaufen. Heißt das, dass er mich mag? Dass ich ihm wichtig bin? Ich starre in sein blasses Gesicht und fange an zu weinen. Er legt seine Arme um mich und ich spüre, wie mir das Herz in die Kehle rutscht. Es springt und springt, setzt kurz aus und springt dann in einem großen Satz wieder zurück an seinen richtigen Platz. Welche Koffer hat dieser Mann zu tragen? Was bedrückt ihn? Möchte ich einer seiner Koffer werden? Ich vergrabe mich in seine Jacke und lasse meinen Gefühlen freien Lauf. Als wäre seine Jacke nicht schon nass genug, heule ich sie jetzt auch noch voll. Ganz toll, Alice. Ich spüre wie seine Wärme mich umhüllt und ich fühle mich zum ersten Mal richtig wohl bei ihm. Keine peinliche erste Begegnung, kein Abschied. Nichts, dass mir... uns gerade im Wege steht.

-Henning
Ich streiche ihr beruhigend über den Rücken. Es scheint sich viel bei ihr aufgestaut zu haben. Die Tränen wollen nicht versiegen. Ich höre mein Herz schneller schlagen. Ihre Nähe macht mich wahnsinnig. Sie ist wirklich so verloren,  wie ich dachte. Und dann ziehe ich sie plötzlich näher an mich. Ihre Nähe tut so gut. Es ist... Wie Zuhause. Nur wir zwei. In einem verlassenen Park. Sie macht sich erst steif und hört einen Moment lang auf zu schluchzen, doch dann gewährt sie meinen Händen den Platz auf ihrer Taille und ich ihren um meinen Hals. Ich fühle, wie sich ihre Fingerspitzen in mein Haar im Nacken schieben und mich überfällt ein Schauer. Sie lächelt versonnen, als sie bemerkt, welche Wirkung sie auf mich hat. Ihre Hände scheinen in meinem Nacken zu brennen, genauso wie ihre Brust an meiner zu glühen scheint. Es ist nur eine enge Umarmung, aber sie haut mich aus den Socken. Wir scheinen uns so nah zu sein und gleichzeitig so weit voneinander entfernt.

-Alice
Für eine halbe Ewigkeit scheint die Welt still zu stehen. Ich sehe alles Schlechte an mir vorbei gehen. Ich lebe den Augenblick. Wir leben den Augenblick. Obwohl wir beide sicherlich im Moment nicht wissen, was jetzt genau das Richtige ist, machen wir genau das Richtige. Es fühlt sich gut an. Als wäre man nach Jahren an den Ort zurückgekehrt, an dem man seine schönsten Erinnerungen gesammelt hat. Ich löse mich langsam von ihm und krame nach einem Taschentuch. Obwohl mir die halbe Wimperntusche im Gesicht hängt, schaut er mich an, als wäre ich genau in diesem Moment das Schönste, was es gibt. Er macht mich schön. Der stille Moment hat sein Ende gefunden. "Sag mal... was machst du bei diesem Wetter eigentlich hier draußen? Wirklich ausgeschlafen siehst du auch nicht aus. Zu viel getrunken nach dem Konzert?" Ich zwinge mir ein Lächeln auf und zwinker ihm zu.

-Henning
Verlegen lächle ich zurück. Ich frage mich, wie man trotz verlaufener Wimperntusche so schön aussehen kann... Sie zwinkert mir zu. Mit einer der schönste Momente meines Lebens ist eben vorbeigegangen. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange wir so umschlungen da standen. Endlich beantworte ich ihre Frage:,, Ich wollte auf andere Gedanken kommen... Immer nur an das schönste Mädchen denken zu müssen und zu wissen, dass man keine Chance bei ihr hat, kann echt frustrierend sein. Vor allem wenn sie sich jetzt in deinen Armen ausgeheult hat." Verwundert über meine eigene Ehrlichkeit senke ich beschämt den Kopf und meide ihren Blick.

Das Porzellanmädchen [✔]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt