Leise wispernd strich die kühle Nachtluft durch die dunklen, strähnigen Haare des Jungen. Der Winter war mittlerweile über das Land eingekehrt und unterstrich pflichtgemäß die Stille der Natur und die Abwesenheit aller von Menschen erzeugten Geräusche.
Die schnellen Schritte des Jungen durchbrachen diese allumfassende Ruhe und wurden nur durch den frischgefallenen Schnee am Bahnsteig gedämpft; unwirsch strich er sich einige der durcheinanderwirbelnden Flocken aus dem Haar, während er ausdruckslos auf seine Füße starrte, die mittlerweile schon die ersten Frostbeulen an den Zehen ausgebildet und eine dunkelblaue Färbung angenommen hatten.
Der Pyjama des Jungen war aufgeknöpft, die lockere Hose war bis zu seinen Schienenbeinen durchnässt, die nackte Brust zierten unzählige Narben; manche bereits verblasst und eben, andere noch blutrot und verkrustet.
Der menschliche Körper ist in dieser Beziehung tatsächlich überaus faszinierend. Verletzte Blut- und Lymphgefäße werden unmittelbar nach äußerlicher Gewalteinwirkung autark versorgt, die Blutgerinnung setzt ein und der Heilungsprozess wird eingeleitet. Ohne weiteres Zutun beginnt der Körper nun ein hauseigenes Abwehrsystem hochzufahren, ein Zahnrad greift in das Andere, ein nahezu perfekter Ablauf.
In die Wunde eingedrungenen Keime werden beseitigt, die Infektbekämpfung ist in vollem Gange. Die Einsprossung neuer Kapillaren wird vorangetrieben, Proteine und Kollagenfasern werden gebildet und die Wunde verkleinert sich allmählich durch die Bildung von Granulationsgewebe. Zu guter Letzt proliferieren die Zellen der Epidermis mit unserer Wunde, die kollagenen Fasern werden vernetzt, einfach gesagt: eine Narbe entsteht.Unser Geist hingegen hat kein solch ausgeklügeltes, nach festen Phasen ablaufendes Reparatursystem. Während unser Körper sich automatisch immer und immer wieder regeneriert, egal wie oft wir verletzt werden, ist unser Geist schutzlos, wehrlos und fragil.
Wir ziehen mentale Mauern hoch, versuchen uns irgendwie erneut zusammenzuflicken, doch die Zahnräder, die in unserem Körper so akkurate Arbeit leisten, versagen.
Irgendwann schaffen wir es nicht mehr, die Bruchstücke unserer Seele aufzusammeln, zusammenzusetzen und weiterzumachen, auch wenn unser Körper schon wieder vollends belastbar ist und nichts außer ein paar verblasster Narben noch an die Hölle erinnern, durch die man sich bis vor Kurzem noch hatte kämpfen müssen.
Ein mit Fehlern behaftetes System würde der Rationalist sagen. Was bringt mir ein nahezu unkaputtbares Gefäß, wenn der Inhalt sich schon nach der ersten Erschütterung auf dem Boden verteilt und nicht mehr vollständig aufzulesen ist?
Doch der Rationalist vergisst eines: Was würde uns Menschen denn sonst noch unterscheiden von einer bloßen Maschine, einem abgestumpften Organismus, einer bloßen Kette von bedeutungslosen Abfolgen, die auf äußere Einflüsse nur noch in immer gleicher Manier reagieren anstatt mit ihnen zu interagieren? Über was können wir uns dann noch als menschlich definieren?
Der Schneefall verdichtete sich, als der Junge schließlich stehenblieb und fröstelte. Er hatte schon immer gewusst, dass es eines Tages so enden würde. Eigentlich hatte er lange durchgehalten, dachte er sich. Mit einem abgestumpften Lächeln auf den Lippen sprang er hinab ins Gleisbett.
Er atmete einmal tief ein, kalte Luft füllte seine Lungen und ließ seine Nasenflügel erbeben. Abrupt fiel er auf die Knie in den die Sonne reflektierenden Schnee, der sich über die Schienen gelegt hatte. Alles um ihn herum war so hell, so einladend, so richtig.
In der Ferne war er bereits zu hören. Der galoppierende Herzschlag der alten Dampflok, welcher sich unweigerlich näherte.
Die Miene des Jungen versteinerte, behutsam bettete er seine Wange unmittelbar auf dem kühlen Stahl, die Schienen mit den Händen fest umklammert, beinahe als hätte er Angst, sie würden ihm entrissen.Ein langgezogenes Pfeifen zerriss die Luft und kündigte somit das baldige Eintreffen des anrückenden Zuges an.
Der Junge schloss langsam die Augen und dachte mit aller Kraft an das, was er bis dahin immer und immer wieder versucht hatte, aus seinen Gedanken zu verbannen.Seine Lippen formten lautlos das Wort: »Taehyung«, bevor die Lok ohne abzubremsen durch den verlassenen Bahnhof schmetterte.
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DAS LACHEN DER TRAUERWEIDE
Fanfiction𝗼𝗻𝗴𝗼𝗶𝗻𝗴 ❝In der Ferne war er bereits zu hören. Der galoppierende Herzschlag der alten Dampflok, welcher sich unweigerlich näherte. Die Miene des Jungen versteinerte, behutsam bettete er seine Wange unmittelbar auf dem kühlen Stahl, die Schien...