~ 20.6 ~

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„WAS IST BITTE SO UNFASSBAR WICHTIG, MICH IN EINER TOUR MIT ANRUFEN ZU ATTACKIEREN?", schrie ich weiter und spürte erneut, wie mein erhöhter Blutdruck sich bemerkbar machte.

Die Augen erneut schließend, atmete ich einmal tief durch, um den spärlichen Rest Contenance zu bewahren, der mir gerade erst zuteil geworden war.

Einen Moment lang herrschte absolute Stille, gespannt wartete ich auf das Plädoyer meines Peinigers, da vernahm ich ein erleichtertes Seufzen am anderen Ende der knackenden Leitung.

„Gott, Tae, es geht dir gut!", brummte eine tiefe Stimme leise in den Hörer. Irritiert überlegte ich einen kurzen Moment, bei wem es sich bei der ominösen Person handeln könnte, jedoch erübrigte sich dies, als die Stimme mir beinahe entgegenknurrte: „Hier ist Yoongi, du Vollidiot." Mir entwich ein leises ‚Ah'. „Weißt du eigentlich, was wir uns alle für Sorgen gemacht haben?!", fuhr er mit belegter Stimme, die gleichermaßen Erleichterung wie Wut ausstrahlte, fort.

Völlig perplex konnte ich nichts anderes tun, als stumm mit abwesendem Blick auf meine Hände zu starren „Yoongi?", fragte ich leise, als hätte ich seine letzte Aussage gänzlich überhört.

Die Stimme meines besten Freundes zu hören, ließ meine Wut von einer auf die andere Sekunde vollkommen verpuffen.

Unbarmherzig spürte ich das Chaos an Gefühlen, welches ich in den letzten 24 Stunden durchlebt hatte, unruhig an der Oberfläche kratzen.

„Ja, hier ist tatsächlich Yoongi, dein bester Freund, klingelt da was?", schnaubte er verächtlich. „Obwohl ich mir in der Beziehung nicht mehr so sicher bin, eigentlich sollte man meinen, als bester Freund nicht tagelang ignoriert und weggedrückt zu werden, nachdem sich der andere gegen alle Ratschläge doch mit ausgerechnet dem Idioten getroffen hat, der ihm zuvor das Herz gebrochen und ihn von vorne bis hinten verarscht hat, meinst du nicht?" Seine Stimme zitterte vor Erregung.

Sobald Yoongi unser Treffen vor nichtmal wenigen Tagen in Seoul erwähnte, brachen bei mir alle Dämme.

Unkontrolliert fing ich an zu schluchzen, währenddessen zog ich reflexartig meine Knie an, schlang meinen freien Arm um diese, ehe ich auch schon, das Telefon weiterhin mit zittrigen Fingern an mein Ohr haltend, mein Gesicht zur Gänze in meinem Schoß verbarg. „Yoongi.", war das einzige, was ich zwischen multiplen Schluchzern hervorbrachte.

Mein rasendes Herz in meiner Brust brannte wie Feuer und schien mich umso schmerzlicher an die Abwesenheit des Jüngeren erinnern zu wollen.

Offenbar hatte ich die brenzlige Situation gerade emotional doch nicht so gut weggesteckt, wie es noch innerhalb der feuchten Mauern gewirkt hatte.

Es schien, als würden sich alleine beim Klang der Stimme meines besten Freundes, alle zurückgedrängten und aufgestauten Gefühle, die ich, um die Suche nach Jeongguk so effizient wie möglich zu halten, unterdrückt hatte, mit einem mal entladen.

Ich war physisch wie psychisch am Ende meiner Kräfte angelangt.

Das leise Knistern der gehaltenen Leitung war für ein paar Sekunden das einzige Geräusch, welches zwischen uns zu vernehmen war, bis mein bester Freund mit fester Stimme das Wort ergriff: „Tae, wo bist du gerade? Was ist los?" Langsam betonte er jede Silbe, als würde er sich Sorgen um meinen derzeitigen Geisteszustand machen.

„Ich bin-", pfeifend atmete ich erneut einmal tief durch, um meine bebende Stimme unter Kontrolle zu bekommen. „Ich bin am Bahnhof. Du, ich, ich meine- ich war im Wald und Jeongguk.. Jeongguk.", wiederholte ich seinen Namen, bevor noch mehr heiße Tränen in mir aufstiegen und meine Stimme gänzlich brach.

Ich muss mich zusammenreißen, so bin ich nicht im geringsten eine Hilfe, dachte ich stumm.

„Tae, wo bist du genau? Bei euch im Dorf am Bahnhof? Wir kommen dich holen, du musst nur etwas wa-"

Abrupt fiel ich dem Älteren ins Wort „Wer ist wir?", entgegnete ich skeptisch flüsternd. Aus keinem bestimmten Grund begann mein Herz schneller zu schlagen.

„Sei mir nicht böse, aber deine Eltern haben mich angerufen. Sie waren ganz schön verzweifelt, nachdem du ohne Grund einfach abgehauen bist und ich habe mir ohnehin schon Sorgen gemacht-"

Abermals unterbrach ich ihn mitten im Satz „Ohne Grund?", hauchte ich heiser. „OHNE GRUND?", schrie ich unmittelbar darauf laut in den Hörer. „Sie haben mir gesagt, dass ich mich auf Abwege führen lasse, dass ich nur verwirrt sei und dass sie mich nicht wirklich lieben würden." Bitter lachte ich kurz hart auf. „Sie haben buchstäblich gesagt, dass sie mich und wen ich liebe ablehnen, das ist für dich also ohne Grund?", erwiderte ich kaum hörbar. Mein Herz pochte schmerzhaft in meiner Brust bei der vagen Erinnerung an das vergangene Gespräch.

Ich konnte die Räder in Yoongis Gehirn beinahe durch die Leitung emsig rattern hören, ehe er nach einigen verstrichenen Sekunden erneut beschwichtigend ansetzte: „Ich habe gehört, dass wohl einige Dinge gesagt wurden und einige Wörter gefallen sind, die im Eifer des Gefechts vielleicht etwas unüberlegt gewählt wurden, jedoch machen sich deine Eltern auch nur lediglich Sorgen wegen deines Umgangs mit diesem Jungen-"

Da platzte mir endgültig der Kragen „Bist du mein Freund oder der Anwalt meiner Eltern, huh? Willst du mir jetzt etwa auch meine eigene Entscheidungsfreiheit absprechen, willst du mir jetzt etwa auch den Umgang verbieten mit diesem Jungen, verdammt nochmal, ich sage es euch nur noch ein letztes Mal, dieser Junge hat einen Namen; er heißt Jeongguk verdammt! Jeongguk, der jetzt ganz alleine völlig verwirrt irgendwo durch die Weltgeschichte läuft, weil ich es nicht geschafft habe, ihm zu helfen, Jeongguk, der sich alles aufgebürdet hat, um mich glücklich zu machen, während ich zu verblendet war, um zu sehen, wie es ihm wirklich geht, Jeongguk, der sich vielleicht jetzt in diesem Moment etwas antut, weil ich zu eingenommen von meinen eigenen Problemen war!" Immer lauter schwoll meine heisere Stimme an, bis sie am Ende eher einem schrillen Quietschen glich, doch die Wut und die Verzweiflung, die ich in jedes meiner Worte legte, entluden sich trotzdem schlagartig.

Wie konnten die Leute um mich herum sich nur mit solchen Lappalien aufhalten, wie konnten sie ihn einfach weiter verurteilen, ohne ihn auch nur ein bisschen zu kennen?

„Ich verstehe nicht.", murmelte Yoongi daraufhin nur verständnislos in den Hörer.

„Nein ihr versteht nicht, schon klar, ihr werdet es scheinbar nie verstehen. Ich bin mittlerweile nicht mehr der gleichgültige, emotionslose Taehyung, dem ihr ohne nachzufragen einfach eure Meinung aufdrücken könnt, wie es euch gerade beliebt, ich habe angefangen, mich um mich selbst zu kümmern und ich werde damit anfangen, mich um andere zu kümmern, so wie sie es verdienen!" Stumm rannen mir einige weitere, dicke Tränen aus den Augenwinkeln, währenddessen rappelte ich mich umständlich auf und klopfte mir den Dreck des schmutzigen Bodens von den Kleidern.

„Tae, bitte rede mit mir, ich mache mir doch nur Sorgen um dich.", rief der Ältere daraufhin lediglich aufgebracht, doch ich hatte meine Entscheidung bereits gefällt.

„Yoongi, ich bin es satt. Ich bin es einfach satt, das zu hören. Ich bin nicht derjenige, um den ihr euch sorgen solltet. Sag meinen Eltern, jetzt da sie ja wissen, dass es mir gut geht, dass sie mich gefälligst nicht mehr zu kontaktieren versuchen sollen. Jeongguk hat mir gezeigt, dass richtige Familie nicht unbedingt Blutsverwandtschaft voraussetzen muss und momentan fühle ich mich bei ihnen nichtmal mit dieser wohl. Und du-", ich machte eine kurze Pause, um meine rasenden Gedanken zu sortieren. „Du bist mein bester Freund und ich würde wirklich alles für dich tun, ich hoffe, das weißt du. Aber wenn du nichtmal mir zuliebe dazu bereit bist, zu versuchen, Jeongguk zu akzeptieren, weiß ich nicht, inwiefern ich dir glauben kann, dass ich dir überhaupt wichtig bin."

Mit diesen Worten beendete ich das Gespräch, ehe ich, die multiplen weiteren Versuche des Älteren mich zu erreichen vollkommen ignorierend, das kleine, elektronische Gerät stumm in meine Tasche gleiten ließ, bevor ich abermals hinaus in die beißende Kälte, die über den verlassenen Bahnsteig fegte, trat.

DAS LACHEN DER TRAUERWEIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt