Mit klopfendem Herzen stand ich nun am Gleis in meiner alten Heimat, während ich mir gestresst abermals durch das frisch gewaschene Haar fuhr und diese verzweifelt versuchte, wieder zu richten, nachdem der Wind, der eisig über den überfüllten Bahnsteig pustete, sie mir zerzaust hatte.
Wiederholt lugte ich auf meine lederne Armbanduhr. 19:58 Uhr.
Um ein Haar hätte ich den letzten Zug in unserem Dorf verpasst. Völlig außer Atem war ich in der letzten Sekunde noch zwischen den sich bereits schließenden Türen durchgehuscht.
Hoffentlich hatte ich in der Eile nichts Wichtiges vergessen, das wäre typisch für mich. Automatisch tastete ich mich kurz ab. Schlüssel, Brieftasche, Handy. Alles soweit da.
Unschlüssig trat ich von einem Fuß auf den anderen, währenddessen schweifte mein Blick ungeduldig umher.
Obwohl ich eine lange Zeit im Herzen Seouls gelebt hatte, war ich doch so gut wie nie hier gewesen.
Dennoch überkam mich ein fast heimeliges Gefühl hier im Strom der Menschenmassen, welche mit ausdruckslosen Gesichtern an mir vorbeizogen.
Ich sah Menschen in teuren Anzügen mit noch teurer aussehenden Aktentaschen, Familien mit ihren aufgedrehten Kindern, die ausgelassen tobten, während die überforderten Eltern nur verzweifelt versuchten, den Überblick über ihre Abfahrtszeit, ihr Gepäck und ihren wirbelnden Nachwuchs zu behalten, Paare, die sich in den Armen lagen, auf den Gesichtern ein trauriger Ausdruck liegend, ob wegen eines Abschieds oder wegen einer langersehnten Heimkunft war kaum auszumachen; ich sah Leute, die mit Mundschutz und Kapuze, sich fast bis zur Unkenntlichkeit verdeckten, unzählige lachende, sowie ausdruckslose, glückliche sowie traurige Gesichter; sie alle huschten an mir vorbei, es war als würde die Welt sich etwas schneller drehen, so rasch bewegte sich der nicht abreißende Strom an unterschiedlichsten Mienen und Emotionen vor meinen Augen; wie in Trance stand ich lediglich versteinert zwischen ihnen, übermannt von den erbarmungslos auf mich einprasselnden Eindrücken.
Beinahe aufdringlich vermischten sich weitere unzählige Geräusche und Gerüche mit der ohnehin schon gehetzten Szenerie; das zischende Koppeln zweier Züge unmittelbar neben mir, der Geruch von Metall auf Metall, der erzeugt wurde, wenn ein ankommender Zug quietschend in die Eisen ging und langsam in den tosenden Bahnhof einrollte, die monotonen, dumpfen Schritte unzähliger Paar Schuhe, die, vom schmutzigen Boden wiederhallend, zwar durcheinander und doch uniform ihre Besitzer auf dem harten Pflaster zu ihrem auserkorenen Ziel trugen; generell war man an diesem Ort umhüllt von einer schier lebendigen Aura, als wäre der Bahnhof die pulsierende Hauptschlagader der Metropole.
Unsicher zupfte ich an meinem weiten Hemdärmel herum. Jeongguk und ich hatten keinen genauen Treffpunkt ausgemacht, vielleicht sollte ich mich erstmal nach draußen vor die Station begeben und dort nach ihm Ausschau halten.
Meine Schritte schienen beinahe gänzlich vom tosenden Treiben auf dem dreckigen, gepflasterten Bahnsteig verschluckt zu werden, während ich den Blick auf den Boden gerichtet, den gelben Pflastersteinen folgte, die den Weg Richtung Bahnhofshalle wiesen.
Ich bahnte mir einen schmalen Gang durch die Massen, möglichst darauf bedacht, niemanden zu berühren, bevor ich schließlich aufseufzend die großen Glastüren durchschritt und meine Lungenflügel gierig mit kalter Nachtluft füllte.
Die Sonne war bereits vor längerer Zeit untergegangen, die gläserne Front der Seoul Station reflektierte eifrig die bereits brennenden Laternen des Platzes vor ihr.
Etwas abseits an einem nahgelegenen Geländer kam ich schlussendlich zum Stehen und umklammerte mit meiner Hand fest das eiskalte Metall.
Obwohl mir dieses bunte Treiben sofort ein Gefühl von Heimat vermittelte, ertrug ich es dennoch nicht zu lang und zu exzessiv solchem Trubel ausgesetzt zu sein.
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DAS LACHEN DER TRAUERWEIDE
Fiksi Penggemar𝗼𝗻𝗴𝗼𝗶𝗻𝗴 ❝In der Ferne war er bereits zu hören. Der galoppierende Herzschlag der alten Dampflok, welcher sich unweigerlich näherte. Die Miene des Jungen versteinerte, behutsam bettete er seine Wange unmittelbar auf dem kühlen Stahl, die Schien...