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[Hinweis: Dieses Kapitel enthält zum Teil Inhalte, auf die manche Leser sensibel reagieren könnten]

Einen fixen Zeitpunkt hätte der Junge selbst nie benennen können, aber wenn es denn einen gab, dann war es dieser.

Nachdem die Nachricht des so veränderten Jungen die Runde gemacht hatte, wurde es für seine Eltern schwieriger und schwieriger, seine Andersartigkeit vor der Öffentlichkeit zu verbergen.

Seine Ausbrüche nahmen stetig zu, sie vermuteten dies sei das letzte Aufbäumen seines gebrochenen Geistes und dass sie diesen letzten Funken eigenen Willens nur im Keim ersticken mussten, um endlich am Ziel zu sein; das multifunktionale Kind, von welchem sie träumten war jedoch komplizierter zu kreieren, als sie anfangs angenommen hatten.

Die Stadt, in der sie lebten, war zu groß. Zu viele Augen, zu viele Ohren, obwohl hier einige der großen Drahtzieher, einige der skrupellosen Puppenspieler, die im Hintergrund der Sekte die Fäden zogen, lebten, hielten sie es für sinnvoller, diesen Ort zu verlassen.

Es würde so praktisch sein, versuchte der Vater seiner Frau das pompöse Anwesen direkt in dem Wald, zu dem sie sonst weit fuhren, um ihre schwarzen Messen abzuhalten, schmackhaft zu machen.

Doch sie hatte von Anfang an nichts dagegen gehabt. Ein Neuanfang in einer fremden Stadt war perfekt in ihren Augen.

So könnte sie klammheimlich die letzten quälenden, mütterlichen Gefühle, die sie noch für ihren Sohn hegte, die sie des Nachts wachhielten und stumme Tränen weinen ließen, ein für alle Mal zurücklassen.

Des weiteren wurde es in Busan ohnehin langsam zu brenzlig. Einer der Lehrer hatte Verdacht geschöpft; ein aufmerksamer, großgewachsener Mann mit wachen Augen und noch voller Elan frisch von der Universität, lud explizit beide Elternteile zum Gespräch, um das eigentümliche Verhalten ihres Sohnes zu diskutieren.

Einige Tage später stand bereits das Jugendamt bei den Jeons vor der Tür und noch einige weitere Tage verstrichen, da erschien der Lehrer, der sonst immer so pflichtbewusst schon lange vor Schulbeginn in seinem Klassenzimmer saß und akkurat seine bevorstehenden Unterrichtsstunden vorbereitete, nicht mehr zu Arbeit.

Es war beinahe unmöglich, dass jemand Verdacht schöpfte, immerhin war die Sozialarbeiterin hellauf begeistert von der Liebe und Fürsorge, die die Eltern ihrem Problemkind in solch einer schwierigen Phase entgegenbrachten, jedoch war ‚beinahe' ein Adverb, welches dem Wortschatz der Familie nicht angehörig war.

‚Beinahe' war nicht genug.

Also ließen sie Busan hinter sich und bezogen das imposante, einsame Haus inmitten des Waldes, welcher Jeongguk mittlerweile so verhasst war wie kein Zweiter.

Immerhin war das der Ort gewesen, an dem das passiert war, was seine Mama so tiefgreifend verändert hatte.

Und da war er nun: der Moment, der Jeongguks neuen Lebensabschnitt endgültig besiegeln sollte.

Rastlos glitt sein Blick panisch über die glatten, sterilen Wände des Raumes. Das gleißende Weiß brannte fast in seinen Augen, so strahlend schien es von den Außenwänden, grell beschienen von einigen metallenen, kreisrunden Deckenleuchtern, zu reflektieren.

Näher und näher kamen die Schritte, die den Jungen regelmäßig bis in seine Albträume folgten.

Manchmal, wenn es vollkommen ruhig war und er angestrengt lauschte, konnte er sie selbst, wenn er wach war, hören.

Immer unruhiger wälzte er seinen winzigen, entblößten Körper auf dem metallenen Tisch, der fast genauso aussah, wie einer, auf dem in den ganzen Arztsendungen im Abendprogramm immer die Leichen aufgebahrt wurden, dachte sich Jeongguk.

Beruhigen tat ihn dieser Gedanke allerdings nicht.

Da tauchte plötzlich das Gesicht seines Vaters im direkten Schein der großen, weißen Operationsleuchte, die mit ihrem facettierten Mehrfach-Linsensystem punktgenaue Leuchtfelder nicht mehr nur auf den blassen Leib des Jungen, sondern nun auch auf ihn warf.

Seine dünnen Lippen verzogen sich zu genau dem Lächeln, welches bereits seit geraumer Zeit unablässig durch den Kopf des Jungen schwirrte.

Je näher er trat, desto schneller entfernten sich die unregelmäßigen Schattenmuster, die durch den Einfall des Lichtes der Deckenlampe auf seinem ausgezehrten Fratze erzeugt wurden, bis er schließlich im hellen Schein unmittelbar vor dem ausgekühlten Metalltisch zum Stehen kam.

Wundgerieben waren bereits die Handgelenke Jeongguks, immer wilder begann er, seinen Leib auf dem kalten, nackten OP-Tisch zu winden, doch vergebens.

Mit einigen ruckartigen Bewegungen löste sein Vater dann plötzlich die ledernden Fesseln und bevor Jeongguk irgendwas hätte tun oder sagen können, da packte ihn die große Pranke seines Vaters, gänzlich umschloss sie seine schmale Kehle und begann ihm mehr und mehr die Luft abzuschnüren.

Heroisch stand sein Vater nur dort, den strampelnden Jungen locker vor ihm in die Luft haltend und dachte erst daran, seinen Griff zu lockern, als die Lippen seines Sohnes aufgrund des Sauerstoffmangels bereits blau angelaufen waren.

Achtlos ließ er ihn fallen auf den großen, hölzernen Stuhl, der in der Ecke des Raumes stand, daneben einige eigentümlich ausschauende, wild blinkende und piepende Apparate.

Augenblicklich krümmte sich Jeongguk, schwer geschüttelt von dem Husten und Würgen, welches der Griff seines Vaters ausgelöst hatte. Am ganzen Körper zitternd, schlang der Junge seine Arme eng um die Knie und presste sich mit angsterfüllten Augen panisch an die hölzerne Lehne des großen Stuhls, in seinem Kopf unzählige Stimmen, die quälend auf ihn einredeten.

Was hatte er bloß falsch gemacht?

Doch sein Vater dachte nicht daran, ihm auch nur eine kurze Pause zu gewähren; sofort packte er den noch vor Schmerz gekrümmten Jungen und fixierte seine Handgelenke erneut mit schweren Ledergurten, die an den Armlehnen des Stuhls befestigt waren.

Dämonisch grinsend, entblößte er seine beinahe unnatürlich weißen Zähne, ehe er auch schon einige Schalter an den nebenstehenden Gerätschaften betätigte und nach zwei langen Kabeln griff, an dessen Ende kleine, metallene Klemmen befestigt waren.

Leise vernahm Jeongguk das Summen, welches die elektrische Spannung, die durch die Maschine erzeugt wurde, als sie tückisch durch die langen Kupferkabel floß, abgab, wodurch sich automatisch sämtliche Härchen seines Körpers aufstellten.

Verzweifelt riss der Junge die Augen weit auf, als sein Vater mit einer herausforderndem Geste die Klemmen, welche er selbst am gummierten Ende gefasst hatte, aneinanderstieß, verzerrt spiegelten sich die Funken, die das unter Strom gesetzte Metall daraufhin stob, in Jeongguks angsterfülltem Blick.

Der Herzschlag des Jungen schien völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten, immer weiter presste er sich in das splittrige Holz, die Stimmen, die in seinem Kopf unablässig kreisten, wild durcheinander brüllend, einzelne Erinnerungsfetzen fluteten sein Gehirn und überwältigten in schließlich gänzlich.

Die ganzen Albträume, die unzähligen Ausflüge mit seinem Papa, die Prügeleien in der Schule, das seltsame Verhalten seiner Mutter; das alles prasselte unermüdlich auf die Psyche des Jungen ein, als sein Vater mit den Funken sprühenden Kabeln immer näher an ihn herantrat und zum ersten Mal in seinem kurzen Leben wünschte er sich, zu vergessen, wünschte er sich, Zeit zu verlieren.

Und kaum, dass er diesen Wunsch in seinem Inneren geäußert hatte, wurde er auch schon klammheimlich von der nur darauf lauernden Dunkelheit verschluckt.

DAS LACHEN DER TRAUERWEIDEWo Geschichten leben. Entdecke jetzt