Der frühe Morgen war rau und kalt. Ein eisiger Wind wehte vom Osten in die hohen Gänge des Geländes und heulte um die scharfkantigen Ecken. Der Mond war verdeckt hinter schiefergrauen Wolken, die tief und voll mit Regen am Himmel hangen. Bald würden dicke Eiskristalle den Schnee unter seinen Füßen erneuern.
Dieses Gelände erinnerte an nichts mehr, was mit Schönheit und Grazie in Verbindungen gebracht werden konnte.
Dieser Ort stand nur für die Brutalität und Macht, die Elysian verströmte.
Keine wunderschönen Eisstatuen verzierten den Weg, keine schimmerten Treppen, nichts weiter als raues Eis und Metall säumten die Gänge bis hoch zu der riesigen Burg, in denen hunderte von Menschen schlimmste Qualen erlitten.
Ihre Schreie und ihr Stöhnen machten es ihm schwerer sein Versprechen zu halten. Viele von den Inhaftierten waren noch Kriegsgefangene vom Großen Krieg, andere – wie Ezras Brüder – Feinde der Krone und einige wiederum aus längst vergessenen Zeiten. Wenn Weylin nicht aufpassen würde, dann war einer dieser Zellen bald sein neues Zuhause.
Er schob den Gedanken an die Streckbank oder die vielen hungrigen Eisbären beiseite, die extra für das Verzehren von Gefangen gezüchtigt wurden und sogar hier auf diesem Gelände ihr Unwesen trieben und kletterte auf einem Baum, gute zweihundert Meter von der Burg entfernt.
Das Heulen des Windes war so laut, dass sein Trommelfell klirrte.
Sein dunkler Mantel flatterte im Wind und entblößten seine Waffen, die die Dunkelheit reflektierten.
Die Nacht war so still.
Er spürte das stetige Reißen der Ketten der Eisbären, ihre Krallen auf Eis und das Schnappen ihrer spitzen Zähne. Sein Herz raste. Adrenalin verwandelte das rote Blut in tödliches Eis um, das keine Gnade kannte.
Er suchte den Atem des Lebens, denn alle anderen Gefangene waren seelisch tot. Nach nur wenigen Monaten verlor man den Verstand, bis man sich in wilde Tiere verwandelte, die solange schrien, bis ihre Stimmbänder versagten, die sich ihre Augen auskratzten, weil sie die Enge nicht mehr sehen konnten.
Seine Feinde im Großen Krieg hatte er dort hineingebracht, ihr Flehen und Bitten verfolgten ihn heute noch.
Sie baten und flehten ihn an, klammerten sich an seine Arme und Beine, gelobten den Gott des Winters und schworen dem König ewige Treue. Sie sangen im Chor, ihre Glieder waren in schmerzlichen Winkeln verdreht.
Er sah in ihre angsterfüllten Augen, in jede der vielen Männer, die ihm noch vor wenigen Stunden zuvor das Schwert ins Herz gestochen hätte, wenn sie gekonnt hätten.
Sie alle wussten, dass es ihr Ende war.
Keiner konnte aus diesem Gefängnis ausbrechen. Weylin sah sie so lange an, bis er es nicht mehr aushielt und ihnen die Hand auf die Brust setzte und ihr Herz mit nur einem Pfeil seiner Macht erstach. Er hatte ihnen jahrelange Folter erspart und doch – obwohl sie vor Freude winselten und lächelten, als sie starben – hatte er selbst keine Freude daran gefunden. Aber nicht alle hatten das Glück vor den Toren der Burg bereits gestorben zu sein.
Denn die Bären und Wölfe warteten bereits hungrig auf ihr Fressen.
Auf welcher Seite war er nun?
Es war Wahnsinn gewesen, einem Fremden zu vertrauen und gleich zwei ihm Unbekannte aus einem der besten abgesicherten Gefängnisse aus ganz Cynefin zu befreien.
Er hatte zwar Bilder von den zwei Brüdern gesehen, die Ezra ihm gezeigt hatte, und dennoch - das viele Blut und die geschwollenen Glieder würden die Lage nur noch verzwickter machen. Aber er hatte einen Plan.
Es war an der Zeit, dass er seine Macht ausnutzte.
Als persönlicher Leibwächter des Königs hatte er gewisse Privilegien und alle anderen Soldaten und Wachen durften ihm kein Haar krümmen. Darauf setzte er jetzt mit allem, was ihm heilig war.
Verdammt, die Nacht war so leise.
Ein letztes Mal erkundete er das Gelände und prägte sich den Weg ein, obwohl er einen solchen Ort nie vergessen hatte.
Er sprang von dem Ast, auf dem er sich gerade noch versteckt hatte und band sein Pferd los. Weiße Wölkchen stiegen aus den Nüstern auf und vor Kälte schüttelte der weiße Mustang seinen Hals. Mit Absicht hatte er den Sattel der persönlichen Leibgarde ausgewählt, um seinen Rang noch einmal deutlich zu machen.
Bald schon würden die ersten Sonnenstrahlen versuchen sich hinter den dunklen Wolken durchzubohren und die hochragenden Türme beleuchten, die sich wie spitze Zähne in den Himmel erhoben.
Die Schutzmauer war drei Mann groß und eine dicke Eisschicht überzog das grobe Metall. Es gab nur ein Eingangstor, das so mächtig war, dass zehn Männer nebeneinander in das Innere gehen konnten. Hinaus würden sie niemals kommen.
Ein Sturm zog sich auf. Sein Mustang protestierte und warf sein Hals hin und her. Er spürte die drohende Gefahr.
„Ist schon gut, Großer", versuchte er sein Pferd zu beruhigen. „Wir sind gleich wieder draußen."
Die blauen Augen waren weitaufgerissenen und sanft strich er ihm über die Stirn. Er seufzte.
In was hatte er sich da nur hineingeritten.
Aber ein Versprechen war ein Versprechen.
So stieg er auf sein Pferd und trieb es an.
Schnee stäubte unter seinen Hufen auf und der kalte Wind blies ihm peitschend ins Gesicht. Sein schwarzer Umhang flatterte hinter ihm her und das silberne Wappen glich sich dem tobenden Wind an.
Wenn je die Wahrheit hinter dieser Geschichte rauskommen sollte, dann wäre sie eine Rührende.
Ein einfacher Soldat wurde zum Leibwächter eines ihm gehassten Königs ernannt und nicht einmal einen Tag später ließ er sich auf einen tödlichen Pakt ein, um den König anschließend zu stürzen. Wenn er das fremden Menschen erzähle, würde ihm niemand glauben.
Und wenn alles schief ging, dann wären die Brüder tot und seine Rettungsaktion umsonst, und er, nun – er wäre auf dem schnellsten Weg hingerichtet worden. Aber so würde diese Geschichte nicht enden.
Es gab Millionen Wege, wie diese Geschichte am Schluss wirklich enden würde, aber es gab nur einen für Weylin. Und dieser beinhaltete den Tod von König Kaius I.
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Nine Crowns
FantasyFrost and Darkness In einem Land, das nur den Schnee und die eisige Kälte kennt, spielt ein junger Soldat mit dem Tod. Ein verherrender Krieg liegt hinter den neun Königreichen und ein Schlimmerer wird noch folgen. Weylin wird dazu auserwählt, den K...