Die Nacht verlief unruhig. Der Wind war in den nächsten Stunden noch wilder geworden und hatte Äste von ihren Baumkronen heruntergefegt. Weylin war nicht noch mal zurückkehrt zu der Lichtung, an der sie eigentlich nächtigen wollten. Er empfand es als das Beste, wenn er Kenric ein paar Stunden nicht sah, denn er hatte nicht mit Sicherheit sagen können, ob sie beide nicht die Kontrolle verloren hätten.
Am Morgengrauen dann, er hatte beinahe kein Auge zubekommen, ließ der eisige Wind schließlich nach und ein feuchter Nebel drang durch das kleine Stück Wald und schlich sich um seine Füße. Mit steifen Gliedern bahnte er sich einen Weg wieder zurück zu den Pferden. Der Boden knackste unter seinem Gewicht und dank des dichten Nebels hatte er Mühe überhaupt den nächsten Schritt erkennen zu können.
Kein Vogel zwitscherte und auch die Sonne konnte sich noch nicht gegen die auftürmenden trüben Wolken durchsetzen. Es war eine restlose düstere Stimmung, die sich seinem Gemüt anzupassen schien.
An den Pferden lehnte Kenric an einen Baum und zerpflückte gerade einen durchnässten Tannenzapfen.
Er war also doch noch nicht gegangen.
Als er seine Schritte hörte, hob Kenric den Kopf, wandte den Blick aber sofort wieder ab. Anscheinend waren die acht Stunden Trennung noch zu wenig, um Gras über die Sachen wachsen zu lassen. Oder wenigstens sein Zorn etwas zu dämpfen.
Ein eisiges Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, das beide nicht brechen wollten. Denn wofür?
Weylin hatte schließlich keine Schuld daran, dass er von einem Moment auf den nächsten zum rechtlichen Thronfolger von Elysian gemacht worden ist. Wobei die Krone nicht einmal auf seinem Kopf lag!
Er empfand, dass sich Kenric ohne Recht über etwas aufregte, an dem niemand Schuld beitrug.
Hätte Weylin sich verhalten wie ein Lamm, dann wäre der Wolf auch gekommen und hätte das Lamm gerissen. Egal, welchen Anfang die Geschichte auch gehabt hätte, das Ende wäre dasselbe gewesen.
„Ich reite nach Hause", teilte Kenric ihm mit ohne ihn dabei seine Aufmerksamkeit seinen Fingern abzuwenden, die gerade geschickt den Knoten der Stricke lösten.
„Dann wirst du sterben."
„Lieber sterbe ich in meinem Vaterland, als bei meinen Feinden um Almosen zu betteln", giftete er und riss ruckartig an dem Bündel.
„Kenric...", begann er, aber da ertönte schon ein Scharren von Seil auf Seil und sein weißer Hengst war frei.
„Ich komme nicht mit dir mit, Weylin. Vergiss es."
„Ich habe mir nicht ausgesucht, König zu sein."
„Du bist kein König." Kenric Stimme war endgültig. Für ihn saß der Verrat zu tief in seinem Fleisch, und ihn herauszubekommen war noch viel schmerzhafter.
„Nein, das bin ich nicht. Aber du zählst trotzdem zu meiner Familie und Kaius wird nicht zögern, euch alle zu töten."
„Was willst du nun tun?", zischte er und wandte sich zu ihm um. „Glaubst du Verbündete in Plúirín zu finden und mit ihnen Elysian von Kaius zu befreien? Du bist naiv, Weylin, wenn du das wirklich glaubst."
„Ich will Elysian nicht angreifen. Dieses Land bedeutet mir alles", knurrte er und er hatte Mühe ihn nicht anzufallen.
„Aber Plúirín ist nun mal das einzige Land, das mir nicht gleich die Kehle durchschneiden würde, so wie jedes gottverdammte andere."
Kenric schnaubte. „Und dann? Willst du abwarten, bis die Nachricht von deiner toten Schwester an dein mit Blumen übersätes Bett gelangt?"
„Du meinst, ich hätte mir das ausgedacht, um einen Grund zu haben, selbst den Thron besteigen zu können. Hältst du mich etwa für so bestialisch, dass ich den Tod meiner Familie für machtpolitische Interessen nutzen würde?", bellte er und trat einen Schritt auf ihn zu.
„Nein, nicht den Tod deiner Familie, aber ich würde doch sehr wetten, dass du alles daransetzen wirst, Kaius zu ermorden."
Weylin schüttelte seinen Kopf. Er konnte nicht glauben, welches Bild sein engster Freund von ihm hatte.
„Verschwinde. Mir ist es egal, was tu tust. Ich hoffe, dass du noch am Leben bist, wenn wir uns wiedertreffen."
Alle Kraft war aus seinen Muskeln gewichen. Er wurde ganz still. Keine Worte von tausend konnten sie beide jetzt noch retten. Und während er sein Pferd von einem niedrigen Ast losband, hörte er das schwere Hieven eines Gewichtes und den stetigen Klang von Hufen auf gefrorenen Schnee, das irgendwann nur noch wie ein Echo in seinem Kopf widerhallte.
Es gab einmal Tage, ja sogar Jahre, in denen er nichts als Schöneres empfunden hatte, als die endlosen schneebedeckten Hügel, die sanft in Täler mündeten und sich wie eine friedliche Decke aus Samt um einen schmiegte, bis man fast zu träge war, um sich noch auf dem Pferd halten zu können. Als würde warmes Wasser einen einhüllen und in den Schlaf wiegen.
Doch diesmal schienen die Weiten ihn zu verspotten und jeder Anstieg jagte die Kraft aus seinen Gliedern. Es war noch immer düster und unwohl und sein Magen knurrte. Er hatte seit knappen zwei Tagen nichts mehr gegessen und bald würde ihm schwindlig werden und seine müden Glieder wären dann das geringste Problem. Mit leeren Magen Wut zu bekämpfen, hatte noch nie jemanden den Sieg erlangen können.
Es vergingen Stunden, in denen er zwar immer südlicher ritt, doch sein Geist war immer noch an der nördlichsten Spitze bei seiner Heimat.
Er stellte sich Kaius vor, wie er wutentbrannt Soldaten ausschickte, um nach ihm zu suchen. Wie er Hedda an den Haaren packte und zum Reden aufforderte. Wie sie schreien würde und ihre Fingernägel tief in seinen Wangen vergraben würde. Wie Kenric geschnappt wurde und mit Fesseln und Knebel im Mund die Stufen zum Palast geschleift wurde. Und wie seine Mutter bereits keine Kraft mehr hatte, sich zu wehren.
Diese Gedanken zogen vor seinem geistigen Auge stundenlang umher.
Die Sonne stieg auf und wieder unter. Tage und Nächte vergingen, in denen er allein mit seinem Pferd manchmal unter freiem Himmel, an anderen Tagen unter einem Dach von Blättern schlief. Er fing Hasen, sammelte Blätter und Gräser, schnitt sich Pfeil und Bogen aus Ästen, polierte sein Schwert und stieg wieder auf.
Die Zeit war grauenvoll. Seine Haut schmerzte, seine Lippen waren blutig und aufgeplatzt. Seine Haare hatten den Glanz verloren von dem ganzen Schnee und hingen ihm in fettigen Strähnen ins Gesicht. Ein feiner Bart zog sich über seine Wangen und war von der Kälte ganz weiß.
Er war froh, keinen Spiegel bei sich zu haben.
Weylin ritt weiter nach Süden. Irgendwann kam er auf eine glattgerittene Straße, auf der sich frische Radspuren abzeichneten. Er folgte ihr, wohl wissend in welche Stadt sie ihn führen würde.
Eutony lag versteckt hinter einer Bergkluft, an den Seiten umringt von dichtem Wald und an der Südgrenze von einem klaren See.
Er roch das frisch geschossene Fleisch bereits von Weiten. Sein Magen rebellierte ungestüm. Nach einer Zeit entdeckte er die zwei Männer, deren Pferde den Wagen zogen. Sie lachten laut genug, dass man sie auch ohne besondere Mühe hören konnte.
Hier gab es nur wenig Kriminalität, deshalb scherte es niemanden, ob sie nun verfolgt wurden oder nicht. Palastsoldaten kamen nur selten hierher. Nur auf der Durchreise zu den Grenzen wurden sie hier gesehen.
Unter anderen Umständen wäre Weylin sofort und ohne zu zögern hiergeblieben, doch er machte sich nichts vor. Eutony war der erste Ort, an den Kaius nach ihm gesucht hätte. Oder bereits schon getan hatte. Er würde kein Risiko eingehen, die Leute zum einen in Gefahr zu bringen, zum anderen, weil ihm die Kraft fehlte, es mit Palastsoldaten aufzunehmen.
Er vermied also Eutony und machte einen großen Bogen um die Stadt. Sein Pferd galoppierte am Rand des Waldes vorbei. Schnee staubte hinter seinen Hufen auf. Der Hass schwellte auf und überrannte seine Sinne. Er konnte gar nicht schnell genug von dieser Seuche entkommen.
Sein Leben war ein einziges Durcheinander, aber er hatte es in der Hand. Er konnte alles noch ändern.
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Nine Crowns
FantasyFrost and Darkness In einem Land, das nur den Schnee und die eisige Kälte kennt, spielt ein junger Soldat mit dem Tod. Ein verherrender Krieg liegt hinter den neun Königreichen und ein Schlimmerer wird noch folgen. Weylin wird dazu auserwählt, den K...