Mary
Was passiert hier? Ich kann noch keinen klaren Gedanken fassen, fühle mich einfach nur unruhig, als wäre etwas nicht in Ordnung. Erst ein paar Augenblicke später realisiere ich, dass mein Klingelton mich geweckt hat. „Nelli" leuchtet auf dem Bildschirm. Ohne groß nachzudenken, dafür bin ich viel zu fertig, gehe ich ran.
„Was willst du denn bitte?"
„Dir auch einen schönen Morgen Darling, du musst in die Uni."
Mist. Erster Unitag, da war was. Aber doch nicht jetzt schon. Ich halte das Handy vor mein Gesicht und blinzle ein paar Mal, bis ich die kleinen Ziffern lesen kann. 7:55.
„Alta ne das pack ich nicht."
„Gestern etwas zu viel gesoffen oder was?"
„Waas? Ich doch nicht."
„Na Ironie geht noch, dann kannst du auch in die Uni, sonst komm ich und zwing dich dazu."
„Ungünstig, dass du in Australien bist oder?"
„Ich mach das trotzdem. Auf jetzt, du kannst nicht am ersten Tag mit schwänzen anfangen."
„Oke oke, du bist echt unmöglich, woher wusstest du überhaupt das ich noch geschlafen hab?"
„Weil du meine 10 Nachrichten nicht beantwortet hast, vielleicht lag es daran?"
10 Minuten später verlasse ich das Haus, ich habe mir einfach nur ein Kleid übergeworfen und versucht einen Teil der verschmierten Schminke unter den Augen weg zu reiben. Alles andere wäre zu aufwendig. Mir ist eh grad alles egal, mal wieder. Das leere Gefühl am nächsten Morgen ist immer das gleiche. Wenn er mich wieder verletzt hat, ich wieder einmal realisieren musste, wie unwichtig ich ihm doch bin....nur um es bei der nächsten Gelegenheit wieder zu vergessen. Aber jetzt geht es mir erstmal einfach nur scheiße, und der Fakt, dass ich das schon unzählige Male durchgemacht habe, macht es einfach nicht besser. Man möchte meinen, dass dieses leere, taube Gefühl wenigstens nicht wehtut, aber das stimmt nicht, auch wenn es widersprüchlich klingt. Gefühle sind eben nicht logisch, in keiner Hinsicht, und so auch dieses, ich fühle mich taub und gleichzeitig tut es weh, ganz tief innen in der Leere. Und mir ist schlecht, aber das ist vermutlich nur der Kater.
Als ich den Hörsaal endlich gefunden habe, bin ich natürlich schon viel zu spät dran. Und überfüllt ist er auch noch. Orientierungslos sehe ich mich um, ich bin es nicht gewohnt, dass es keine freien Reihen gibt. Unsicher gehe ich die Stufen hinunter, Richtung Tafel, doch sogar die ersten Reihen sehen voll aus, und ich möchte mich gerade nicht direkt neben jemand fremdes quetschen.
Ich will gerade umdrehen, da erkenne ich ein Profil wieder. Es ist das hübsche Mädchen aus der Bibliothek. Das Mädchen, an das ich wirklich erstaunlich häufig gedacht habe, nachdem sie mir an meinem ersten Abend in dieser fremden Stadt aufgefallen ist, während sie in der Bibliothek Bücher zurück in die Regale stellte. Sie ist eines von diesen Mädchen, die einfach in jeder Hinsicht von der Natur gesegnet wurden. Klein, zierlich wie eine Elfe, mit einem porzellanfarbenen Teint, natürlich absolut porenfrei. Glatte glänzende braune Haare, die bis weit über den Rücken fallen, und schließlich ein feines, schmales Gesicht, mit großen Augen, einer kleinen Stupsnase und zarten Lippen, deren perfektes Rosa zumindest aus der Ferne sehr natürlich aussieht. Ich bin immer neidisch auf solche Mädchen, die einfach toll aussehen, ohne dafür morgens eine Stunde vor dem Spiegel verbringen zu müssen, aber gleichzeitig möchte ich auch automatisch mit ihnen befreundet sein. Das gilt nicht nur für Mädchen, allgemein gut aussehende Menschen wecken in mir das Verlangen, etwas mit ihnen zu tun zu haben. Ziemlich oberflächlich, ich weiß, definitiv eine meiner größten Schwächen, aber zumindest gegen diesen ersten Gedanken kann ich wenig tun.
Wie auch immer, dieses hübsche Mädchen sitzt auf jeden Fall hier, in meiner Vorlesung, in der dritten Reihe, und neben ihr ist noch ein freier Platz. Wäre ich nüchtern, hätte ich die Situation jetzt schon so oft in jeglichen Facetten durchdacht, dass ich mich überhaupt nichts mehr trauen würde. Aber mein vom Alkohol vernebelter Kopf ist noch viel zu langsam, anders kann ich mir nicht erklären, was ich als nächstes tue.
„Hey, ich bin Mary, ist der Platz noch frei?" Überrascht blickt sie auf, lächelt mich aber sofort an. „ Hey, klar. Ich bin Anne." Sie nimmt den Rucksack vom Sitz, und fährt fort, etwas darin zu suchen. Ich lächle zu spät zurück, jetzt schon etwas weniger selbstbewusst, ihre braunen Augen sind bei direktem Blickkontakt noch viel schöner, als ich sie mir ausgemalt hatte, und der Kater macht mir zu schaffen. Ich lasse mich auf den Sitz sinken. Anne hat jetzt einen Block, ein Federmäppchen und eine Wasserflasche vor sich auf dem Tisch stehen. Ich starre sehnsüchtig auf das Wasser, wie konnte ich daran nicht denken? Aber ich will sie auch nicht fragen, das wäre komisch.
Vor meinem inneren Auge taucht Tom auf, der dem Mädchen neben ihm ein Glas Wasser reicht... Ich schüttle kaum merklich den Kopf, darüber will ich jetzt wirklich nicht nachdenken.
„Was studierst du?" frage ich, um mich abzulenken.
„Germanistik und du?"
„Ach cool, dann haben wir bestimmt ein paar Sachen zusammen, ich studiere Lehramt in Mathe und Deutsch. Vielleicht kannst du mir ja bisschen zeigen wo ich hin muss, ich habe erst zu diesem Semester hergewechselt."
„Ja klar..." Sie verstummt sofort, als die Professorin sich räuspert und mit der Vorlesung beginnt.
Ich bin absolut nicht in der Verfassung, mir irgendetwas über Literaturgeschichte anzuhören, obwohl ich mich redlich bemühe. Normalerweise wäre es mir völlig egal, aber Anne neben mir schreibt fleißig mit, in einer feinen, geschnörkelten Handschrift, die aussieht wie gedruckt.
Fasziniert beobachte ich wie sie die Seite füllt...erst beobachte ich nur wie die Buchstaben aufs Papier fließen, dann lese ich sie auch. Sie scheint gleichzeitig das wichtigste aus den Folien zusammenzufassen, sowie auch ein paar Dinge, die nicht darauf stehen. Vermutlich Dinge. die die Professorin nur gesagt hat. Aber hat sie wirklich gesagt, dass die Römer eine Penisobsession hatten, weil sie ihn als Symbol des Lebens gesehen haben? Vielleicht sollte ich doch mal zuhören.
Ich versuche es, aber ich bin so müde. Ich überkreuze meine Arme auf dem Tisch und bette meinen Kopf darauf. Oh, das ist super, so kann ich sie perfekt beobachten. Sie schaut konzentriert auf ihr Blatt, es ist, als wüsste sie schon, was auf den Folien steht.
Wahrscheinlich weiß sie es echt schon, sie wirkt wie jemand, der Vorlesungen vorbereitet. Verrückt. Wenn sie nicht so hübsch wäre, hätte ich sie längst als absolute Streberin abgestempelt. Oh man, ich bin eigentlich echt schlimm. Aber zu meiner Verteidigung, alle Leute die ich sympathisch finde, gewinnen dadurch in meinen Augen auch automatisch an Attraktivität, also es ist nicht so, dass ich nur wirklich schöne Menschen mag. Das ist nur gar nicht immer so gut, zumindest in einem Fall wäre es mir viel lieber, wenn es nicht so wäre...aber ich will jetzt nicht an ihn denken, und bisher war Anne auch eine echt gute Ablenkung.
Ich habe gar nicht gemerkt, dass es wieder lauter geworden ist, aber Anne hat aufgehört zu schreiben, also muss die Vorlesung wohl vorbei sein.
Sie lächelt mich an. „Na, gut geschlafen?"
Verlegen setzte ich mich auf, bin ich tatsächlich eingeschlafen? Ich grinse unsicher. „Was hast du denn als nächstes?"
„Mediävistik und du?"
„Ähm, ich weiß gar nicht so genau."
Ich hole mein Handy raus, klicke erstmal automatisch auf Whatsapp, frage mich dann, was ich da will, und öffne meine Galerie, wo ich den Screenshot meines Stundenplans finde. Ich habe jetzt erstmal Mathe und dann eine Didaktikübung, die heute bestimmt eh nicht stattfindet, also werde ich wohl wieder heim gehen.
„Ich hab jetzt erstmal frei, ich denke ich lege mich nochmal schlafen..." Das ist zwar gelogen, aber ich habe nicht unbedingt Lust, ihr zu erklären, dass ich Mathe vermutlich schwänzen werde. Zumal ich selber nicht über meine Beweggründe dafür oder dagegen nachdenken möchte...
"Aber wir sehen uns bestimmt noch in einer anderen Vorlesung wieder. Sitzt du immer ganz vorne?" füge ich noch hinzu, denn ich würde mich wirklich gerne wieder zu ihr setzten. Vielleicht schreibe ich dann sogar auch mal mit, wer weiß.
„Ja schon. Na dann mal gute Nacht." Und mit einem kurzen Winken verschwindet sie, bestimmt um sich in der nächsten Vorlesung einen guten Platz zu sichern.
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Und dann kamst du
RomanceAnnes Leben ist komplett vorherbestimmt. Und sie liebt es. genau wie ihr Germanistikstudium und ihren Freund Lasse, den gutaussehenden Informatiker. Mary ist neu in der Stadt, überfordert von ihrem Leben und furchtbar unglücklich verliebt. Am ersten...