Das Wiedersehen

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Mary

Unruhig rutsche ich auf dem blau gepolsterten Sitz der Regionalbahn hin und her. Ich hatte gehofft, ich könnte ein bisschen Schlaf nachholen auf der Zugfahrt, aber dafür bin ich viel zu aufgekratzt. Ich glaube der Restalkohol von gestern ist noch nicht ganz aus meinem Blut verschwunden, deswegen habe ich mich auch gegen mein Auto entschieden.

Es war zwar schon früher Nachmittag, als Annes Nachricht bei mir eintraf, aber bei Nadines spontaner Hausparty war es auch bis 6 Uhr morgens gegangen. Dementsprechend wackelig war ich auf den Beinen, als ich schließlich aufstand, und war klar, dass ich noch nicht wieder Autofahren konnte.

Und jetzt sitze ich also im Zug zu Anne, mit einer unguten Mischung aus Aufregung, Kater und Übermüdung, die mir fast den Magen umdreht.

Zumindest bereue ich es noch nicht, die Einladung so spontan angenommen zu haben. Ich muss sie einfach sehen, ich habe sie so unendlich sehr vermisst. Nun muss ich nur zusehen, dass ich das nicht zu deutlich zeige. Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie mich krass vermisst hat, vermutlich war sie froh, mal wieder mehr Zeit für Lasse zu haben. Die Gefühle drohen mich zu übermannen und ich hole schnell mein Handy heraus, um mich abzulenken. Doch ich kann mich auf nichts konzentrieren, immer wieder schweifen meine Gedanken ab und direkt zu Anne.

Ich habe immer noch keine Ahnung, wie ich jetzt weiter machen soll, wie ich mit ihr umgehen soll, so dass wir beide gut damit leben können. Und mein spontaner Plan, um das Wiedersehen bestmöglich auszunutzen, ist eigentlich das genaue Gegenteil von langsam Abstand nehmen. Davon hätte mich irgendjemand abhalten sollen.

Daheim war ich mehrere Male kurz davor gewesen, meiner Mum oder meiner Schwester alles zu erzählen, aber dann habe ich es mich doch nicht getraut. Nicht weil sie ein Mädchen ist, das wäre ihnen vermutlich völlig egal, aber weil sie vergeben ist und meine Gefühle nicht erwidert.

Immerhin habe ich beide jahrelang mit Tom vollgeheult, bis auch das letzte Fünkchen Mitleid verschwunden war und sie mir nur noch sagten, ich solle mir den blöden Typen endlich aus dem Kopf schlagen, er wolle halt nichts von mir. Und recht hatten sie ja, und das hätten sie jetzt auch wieder, aber es hilft halt nicht, dass zu hören.

Auch bei meinen anderen Freunden hatte ich hin und herüberlegt, es im Endeffekt aber nicht angesprochen, auch, weil ich nicht ganz wusste, wie.

Aus irgendeinem, mir nicht ganz ersichtlichen Grund, würde ich mich am liebsten Lasse anvertrauen. Mein Gefühl sagt mir, dass er verständnisvoll reagieren würde und mir vielleicht sogar weiter helfen könnte. Aber ich hätte dann das Gefühl, Anne zu hintergehen, und das will ich auf keinen Fall. Und ich könnte ja auch schlecht von Lasse verlangen, so etwas vor seiner Freundin geheim zu halten.

Also stehe ich nach wie vor alleine da mit meinen Sorgen. Und bin jetzt ohne Plan auf dem Weg zu ihr.

Hoffentlich wird es nicht merkwürdig zwischen uns. Sie hat nie angesprochen, dass ich einfach ohne Verabschiedung gegangen bin.

Der Zug wird langsamer und erschrocken blicke ich auf an die Anzeigetafel. Tatsächlich, es ist mein Halt. Den hätte ich jetzt fast verpasst. Schnell ziehe ich mein Ladekabel aus der Steckdose, stecke es ein und ziehe meine neue Lederjacke wieder an. Als ich an der Tür ankomme, steht der Zug auch schon still. Die Ansage für den nächsten Halt muss ich komplett verträumt haben.

Ich steige aus und bleibe erst einmal orientierungslos stehen. Ich weiß nicht einmal, ob ich den Bahnhof an der Nord oder Südseite verlassen soll. Anne meinte, ich soll einfach zu ihr kommen, wohl in der Annahme, dass ich zumindest diesen Weg kenne, aber vom Bahnhof aus bin ich noch nie zu ihr gelaufen oder geradelt. Kenne ich überhaupt ihre Adresse, um sie bei Google Maps einzugeben?

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt