Bitte komm

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Mary

Oh man, ich bin echt nervös. Ob er wohl heute in Algebra aufkreuzt? Ich würde ihn so gerne sehen. Auch wenn das wirklich nicht gut ist. Danach sehne ich mich immer umso mehr nach ihm. Aber das hält mich nicht davon ab, es mir zu wünschen. Wenn sie gestern keine spontane Hausparty gemacht haben, müsste er ja heute fit genug sein, um in die Vorlesung zu gehen, oder?

Ich hasse es, wie unruhig ich werde, sobald auch nur die Möglichkeit besteht, dass ich ihn sehe. Aber grade ist es gar nicht so schlecht, dann muss ich nicht darüber nachdenken, was Anne jetzt von mir denkt. Wie verrückt, dass Lasse ausgerechnet ihr Freund ist. Vom Aussehen her passt es natürlich, sie geben ein bildhübsches Paar ab. Aber ich hätte ihn als lockeren Partygänger eingeschätzt, jemanden, der gut in meinen alten Freundeskreis gepasst hätte, und sie überhaupt nicht. Aber naja, Gegensätze ziehen sich ja bekanntlich an. Und vielleicht täusche ich mich auch in einem von ihnen. Meine beste Freundin Nelli ist auch eine Streberin vom feinsten, aber feiern kann man trotzdem gut mit ihr.

Auf jeden Fall komme ich mir schlecht vor, weil ich ihr ja erzählt hatte, ich würde heimgehen, und stattdessen dann mit ihrem Freund in Mathe saß. Ich hatte wirklich vorgehabt, zurück ins Bett zu gehen, weil ich richtigerweise geahnt hatte, dass ich in Mathe sowieso nichts aufnehmen können würde. Aber ich hatte es im Endeffekt natürlich nicht geschafft. Ich schaffe es nie, irgendwo nicht hinzugehen, wenn auch nur der Hauch einer Möglichkeit besteht, Tom zu sehen. 

Dass ich dadurch Anne jetzt schon am ersten Tag angelogen habe, ärgert mich wirklich. Aber vielleicht ist es ihr nicht mal aufgefallen, und ich dramatisiere das grade einfach. Nicht gerade unwahrscheinlich, überdramatisieren ist mein Spezialgebiet. Eigentlich hat sie erst komisch geschaut, nachdem ich so blöd reagiert hab...

Ich schlendere ganz langsam zum Mathehörsaal, in der Hoffnung, dass er nach mir kommt und von sich aus zu mir aufschließt. 

Ob Lasse schon drin ist? Das wäre besser, ich weiß, nicht ob Tom zu mir kommt, wenn ich mit einem anderen Typen quatsche. Das mit Lasse ist sowieso ungünstig, er ist nett und wenn er alleine sitzt, würde ich mich echt mies fühlen, mich nicht zu ihm zu setzten, aber wenn Tom da ist, möchte ich natürlich bei ihm sitzen. Ist vielleicht auch besser so, Anne soll nicht denken, dass ich mir ihren Freund krallen will.

In diesem Moment tippt mir jemand auf die Schulter, ich drehe mich strahlend um, und sehe Lasse. Ich versuche schnell meine Enttäuschung zu verbergen.

„Hey, so schlimm mich zu sehen?" grinst er. Super gemacht Mary. Ich muss wirklich an meinem Pokerface arbeiten.

„Nein, gar nicht, ich hatte nur mit jemand anderem gerechnet, sorry."

„Na das muss ja ein toller Typ sein, den du so anstrahlst." Er lächelt mich offen an, scheint zum Glück kein Stück gekränkt zu sein.

„Nein, eigentlich gar nicht... Nein, ähm, so meine ich das auch nicht. Wollen wir reingehen?" Ich spüre wie ich rot anlaufe und würde am liebsten im Boden versinken. Was labere ich denn hier für einen Mist. Zum Glück geht Lasse schon in den Hörsaal und ich folge ihm, und lasse meinen Blick wieder suchend über die Köpfe schweifen. Ich kann ihn nirgends entdecken.

„Also kommt er heute, dein Loverboy?"

„Was? Du darfst ihn niemals so nennen, hörst du? Bitte, mach das nie wieder, schon gar nicht in seiner Gegenwart, versprich mir das." Ich kann die Panik in meiner eigenen Stimme hören, aber das ist mir gerade egal. Was soll Tom denn denken, wenn ein Typ, den ich gestern erst kennen gelernt habe, ihn schon meinen Loverboy nennt?

Mein Gesicht muss rot sein wie eine Tomate, was tue ich hier, ich sollte einfach verschwinden. Ich bin gerade mal eine Woche hier und schon scheint mir alles über den Kopf zu wachsen. Kann man in der Antarktis studieren?

„Ganz ruhig, ich sag schon nichts, keine Sorge. Ich wollte dich doch nur ein bisschen aufziehen." Er wirkt ehrlich besorgt, mustert mich, als könnte er sehen, was durch meinen Kopf geht.

„Ey, na was geht." Ich zucke erschrocken zusammen, als Tom sich plötzlich auf den Platz neben mir fallen lässt.

„Nicht viel, bei dir?" Ich klinge so verdammt unsicher. Hoffentlich ist mein Gesicht nicht mehr so rot.

„Das ist übrigens Lasse, ihr studiert zusammen." plappere ich nervös weiter.

„Ah, hi, ich bin Tom."

„Hey, schön dich kennen zu lernen." Lasse lächelt ihn an, Tom lächelt sogar zurück, aber ich kann sehen, dass er nicht begeistert ist. Was zu erwarten war, er ist selten begeistert von neuen Typen, die er kennen lernt. Vermutlich weil die meisten wesentlich besser aussehen als er, flüstert mir meine zynische Seite ein. Aber das muss es nicht mal unbedingt sein, er mag auch viele meiner Freundinnen außerhalb unseres gemeinsamen Freundeskreises nicht, er ist einfach allgemein extrem wählerisch, wenn es um neue Bekanntschaften geht. Außer auf Partys neuerdings, da scheint weiblich sein einziger Anspruch zu sein. Aber jetzt werde ich gemein, die sind bestimmt alle sehr unterhaltsam, die Mädels, die er sich da raussucht.

„Du studierst also auch Informatik hier? Wie taugt es dir bisher?" erkundigt sich Lasse. Tom erzählt, wie er vor einem Semester hier hergewechselt ist, weil es ihm seine alte Uni nicht gefallen hat, und wie es ihm seitdem hier erging. Er redet gerne über sich, und das Gespräch setzt sich fort, bis die Vorlesung beginnt. Ich höre ihm zu, obwohl ich all das schon oft gehört habe, und genieße es einfach, neben ihm zu sitzen.

Ich bemühe mich, diesmal wirklich aufzupassen, seine Anwesenheit lenkt mich zwar ab, aber ich möchte auf jeden Fall alles verstehen, um ihn zu beeindrucken. Oder zumindest nicht dumm da zustehen. Wir wissen beide, dass er wirklich intelligent ist, ein gutes Stück intelligenter als ich, aber ich bin immer bemüht, genug zu wissen, um zu verstehen, wovon er redet, und um kritische Fragen stellen zu können. Damit genüge ich ihm als Gesprächspartner, da es ja meistens eh um seine Ideen und Gedanken geht.

Ich finde insgesamt zwei Fragen, die intelligent genug wirken, als dass ich sie ihm stellen kann, und genieße seine Nähe, als er sich zu mir lehnt, um sie mir leise zu beantworten. Er erklärt für sein Leben gern, und ich könnte ihm stundenlang zuhören.

Ich habe ein bisschen das Gefühl, dass ich Lasse vernachlässige, aber es ist ja nicht so, als hätte ich während letzten Vorlesung mit ihm geredet.

Nach der Vorlesung folge ich Tom automatisch hinaus und zu den Fahrrädern, wir fahren die paar Meter zur Hauptstraße gemeinsam und mit einem kurzen „Tschüss Mary" fährt er davon.

Er hat diese Angewohnheit, bei der Verabschiedung immer meinen Name zu sagen. Ich liebe das, ich fühle mich dadurch automatisch besonders. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mich nicht mal von Lasse verabschiedet habe. Und ich habe jetzt eigentlich noch eine Pädagogikvorlesung. Aber Tom hatte einfach automatisch angenommen, ich hätte jetzt auch frei, als ich ihn zu den Fahrrädern begleitet habe, und ich hatte die Hoffnung, er würde mich mit in seine WG einladen. Was natürlich nicht passiert ist. Wieso sollte er auch. Nur weil ich am liebsten jede Sekunde in seiner Nähe verbringen möchte, muss ihm das ja nicht genauso gehen. Das ist nur in meinen Träumen so...

Ich drehe langsam um und fahre zurück zur Uni. Dabei komme ich mir zwar ein bisschen dumm vor, aber es wäre noch blöder, jetzt einfach die Vorlesung zu schwänzen. Ich finde den Hörsaal gerade noch rechtzeitig und setzt mich alleine in eine der hinteren Reihen, die dann ansonsten auch leer bleibt. Ich konzentriere mich auf die Dozentin, um mich davon abzuhalten, meinen bisherigen Tag zu analysieren. Das waren eindeutig zu viele unangenehme Rot-werd-Momente. 

Ich fasse den plan, mich später durch ein krasses Workout auszupowern bis mein Körper gar nicht anders kann, als endlich mal den dringend benötigten Schlaf nachzuholen.

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt