Mary
Wieder und wieder wälze ich mich im Bett hin und her, aber ich kann einfach nicht schlafen. „Ohne mich kriegst du bestimmt eh mehr Schlaf für deine Klausur morgen." Als ob ich ohne sie besser schlafen könnte.
Naja, ich gebe schon zu, dass ich nicht übertrieben viel Schlaf abbekomme, wenn Anne hier übernachtet, weil wir einerseits bis spät in die Nacht labern oder Serie schauen, und ich andererseits, wenn sie dann eingeschlafen ist, noch lange wach liege, weil ich das Gefühl, sie in meinem Armen zu spüren, viel zu sehr genieße, als dass ich direkt wegpennen könnte. Ich habe mich an diesen Luxus immer noch nicht gewöhnt, obwohl sie inzwischen öfter mit mir übernachtet als mit Lasse.
Genau deswegen konnte ich auch schlecht etwas sagen, als sie verkündete, sie würde heute Nacht mal wieder mit Lasse schlafen. Sie hatte absichtlich mit statt bei gesagt, was mal wieder zeigte, wie blind sie gegenüber meinen Gefühlen für sie ist. Manchmal bilde ich mir ja ein, es könnte ihr genauso gehen, alleine weil sie so viel Zeit mit mir verbringt, aber dann würde sie so etwas doch nie laut sagen. Dann wüsste sie doch, wie sich alles in mir verkrampft, bei der Vorstellung, wie sie Lasse zärtlich küsst und ihn all die Liebe spüren lässt, die ich mir so sehr von ihr wünsche.
Ich habe seit Silvester wirklich versucht, dagegen anzukämpfen, aber es ist einfach unmöglich. Ich bin unwiederbringlich verliebt in sie, und ich fürchte, das wird sich so schnell auch nicht ändern. Zumindest meiner persönlichen Erfahrung nach, was unerwiderte Gefühle angeht.
Bei der letzten Matheklausur konnte ich nicht umhin, mich nach Tom um zusehen, als wir alle aus dem stickigen Raum strömten, erleichtert, es hinter uns gebracht zu haben. In meiner euphorischen Stimmung, da ich es für nicht unwahrscheinlich hielt, bestanden zu haben, wäre ich sogar bereit gewesen, ihm alles zu verzeihen und sogar den ersten Schritt zu tun, wenn wir nur wieder hätten Freunde werden können.
Vermutlich ganz gut, dass er mich so bewusst übersah, dass ich mir nicht die Blöße gab, mir die Abfuhr auch noch mündlich abzuholen. Schon die Tatsache, dass er tatsächlich immer noch nicht bereit ist, mich auch nur anzusehen, reichte aus, meine gute Laune schlagartig verschwinden zu lassen. Nicht unbedingt, weil ich noch Gefühle für ihn hab, aber wir waren uns einfach so lange so nah, dass ich immer noch nicht fassen kann, wie leicht er unsere Freundschaft in die sprichwörtliche Tonne getreten hat.
Naja, mich zum vermutlich 127-millionsten Mal über Tom aufzuregen wird mir auch nicht beim Einschlafen helfen. Nicht, dass ich für eine Psychologieklausur Schlaf nötig hätte. Im Gegenteil, die könnte ich garantiert auch im Schlaf schreiben, also kann ich eigentlich auch morgen währenddessen schlafen.
Oh man, und direkt überkommt mich das Bedürfnis, diese geniale Erkenntnis Anne mitzuteilen. Aber ich werde ihr jetzt nicht schreiben, entweder sie schläft selber schon, oder sie ist anderweitig beschäftigt. Ich will gar nicht darüber nachdenken, der Gedanke bereitet mir körperliches Unwohlsein.
Wieder rolle ich mich auf die andere Seite, vergrabe das Gesicht in meinen Händen. Ich könnte gerade schreien vor Verzweiflung. Wie habe ich es nur so schnell geschafft, wieder hier zu landen. Unglücklich verliebt in jemanden, der nur an Freundschaft interessiert ist. Zumindest daran ist Anne interessiert, das muss ich nicht bezweifeln. Bei Tom habe ich ja sogar ab und zu daran gezweifelt. Zuerst erschien mir das als ein Vorteil, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ihre deutliche Zuneigung verstärkt die meinige nur umso mehr, und ich kann mir noch leichter einreden, sie könnte auch Gefühle für mich entwickeln. Und dadurch trifft mich die Realität, dass sie immer noch Lasse und nicht mich liebt, umso härter.
Wenn ich doch nur einschlafen könnte. Mitten in der Nacht erscheinen ausweglose Situationen immer noch erdrückender. Und obwohl ich das theoretisch weiß, obwohl ich weiß, dass die Welt morgen wieder viel besser aussehen wird, hilft es mir gerade nicht weiter. Ich versinke in meinem Unglück und kann dem deprimierenden Gedankenstrom nicht entkommen, ich kann keinen positiven Gedanken fassen. Es ist so paradox, aber ich kann mir gerade einfach nicht vorstellen, je wieder glücklich zu sein, auch wenn mein gesunder Menschenverstand mir sagt, dass ich es schon morgen wieder sein werde. Wenn ich Anne wieder sehe. Wenn sie mich nach der Prüfung abholt und ich sie erstmal fest in meine Arme schließen kann.
Unglaublich, wie sehr ich sie jetzt schon vermisse, obwohl sie noch bis vor ein paar Stunden bei mir war und ich sie morgen wieder sehen werde.
Es ist dieselbe ungesunde Abhängigkeit wie beim Tom. Ich wollte es nicht einsehen, weil ich sie so über alles liebe, aber es ist genauso ungesund wie bei ihm.
Ich muss irgendetwas tun, so kann ich nicht weiter leben. Irgendetwas Radikales. Vielleicht auswandern. Ich könnte ins Ausland gehen zum Studieren, irgendwo neu anfangen, wo mich niemand kennt. Und mein armes gebrochenes Herz einfach nie wieder jemandem schenken. Es wird ohnehin für immer Anne gehören.
Nein, ich kann nicht weg, ich könnte es nicht ertragen, ohne sie zu sein.
Aber das muss ich ohnehin irgendwann, schließlich wird sie Lasse heiraten und mit ihm Kinder kriegen und ich werde langsam aber sicher aus ihrem Leben verschwinden. Da sollte ich lieber gleich abhauen, dann habe ich es hinter mir, und es geht wenigstens von mir aus.
Ich weiß, dass ich gerade total spinne, aber irgendetwas muss ich wirklich machen, es kann so nicht weiter gehen. Ich muss weg von hier, weg von Anne, um irgendwie zu lernen, auch ohne sie klar zu kommen.
Automatisch drängen sich Erinnerungen in meinen Kopf, Bilder von unserem Roadtrip nach Disneyland. Das letzte Mal, als ich unbedingt weg musste, weil mein Herz gebrochen war, konnte ich mit Anne flüchten. Sie war einfach mitgekommen, ohne große Fragen zu stellen, und es war das schönste Wochenende meines Lebens geworden.
Ich beginne zu weinen, der Gedanke daran, dass Anne, die einzige Person, die mir gerade Trost spenden könnte, genau diejenige ist, die meinen Schmerz erst verursacht, ist zu viel.
Ich heule laut auf und vergrabe mein Kopf in meinem Kissen, beiße hinein, um den nächsten Schluchzer zu dämpfen.
Ich muss hier weg, das ist der einzige klare Gedanke, denn ich fassen kann. Ich werde nach Hause fahren, gleich morgen nach der Klausur. Anne werde ich dann schreiben, dass ich spontan Heimweh bekommen habe, oder so. Gut, dass das morgen meine letzte Klausur ist. Ich hatte natürlich eigentlich noch auf unbestimmte Zeit hierbleiben wollen, um mit Lasse und Anne, nach ihren letzten Prüfungen nächste Woche, zu feiern, und dann die Semesterferien gemeinsam zu verbringen. Anne und ich hatten überlegt einen Roadtrip nach Italien zu machen, sobald es dort etwas wärmer wird. Aber ich kann mir gerade einfach nicht vorstellen, wie ich das durchstehen sollte. Mit so starken Gefühlen für sie und wissend, dass sie diese nie erwidern wird.
Ich will sie eigentlich gar nicht mehr sehen, kann sie nicht sehen, sonst verwerfe ich meinen Plan vermutlich sofort wieder. Aber ich muss nach Hause, weg von ihr, um wieder klar zu kommen.
Gut, dass ich Psychologie schreibe. Da kann ich garantiert schon nach der Hälfte der Zeit abgeben, und dann direkt losfahren. So kann ich eine Begegnung vermeiden. Sobald ich im Auto sitze, kann ich ihr dann schreiben, dass sie mich nicht von der Prüfung abholen muss.
Ja, so werde ich es machen. Ich habe aufgehört zu weinen und atme ein paar Mal tief durch. Es geht mir schon ein Stück besser, weil ich jetzt einen Plan habe, an dem ich mich festhalten kann.
DU LIEST GERADE
Und dann kamst du
RomanceAnnes Leben ist komplett vorherbestimmt. Und sie liebt es. genau wie ihr Germanistikstudium und ihren Freund Lasse, den gutaussehenden Informatiker. Mary ist neu in der Stadt, überfordert von ihrem Leben und furchtbar unglücklich verliebt. Am ersten...