Anne
Mary war heute nicht in der Vorlesung. Ich hatte die ganze Zeit gehofft, sie käme nur zu spät, aber sie ist einfach nicht aufgetaucht. Ob sie wohl später zu Numerik geht? Vielleicht sollte ich einfach auch hingehen, ich wollte Lasse eh mal in eine Mathevorlesung begleiten. Ich war nur bisher noch nie bereit, dafür eine meiner Vorlesungen sausen zu lassen. Und es wäre wirklich verrückt, damit heute anzufangen.
Ich denke viel zu viel über Mary nach. Dabei redet sie kaum mit mir. Aus irgendeinem Grund fühle ich mich aber nicht abgewiesen dadurch, irgendwie schafft sie es trotzdem, mir das Gefühl zu geben, dass sie gerne in meiner Nähe ist. Wobei dafür auch einfach nur ein Lächeln von ihr reicht. Also vielleicht will ich einfach nur glauben, dass sie mir dieses Gefühl vermittelt.
Lasse und ich sind inzwischen überzeugt davon, dass sie einfach unsterblich in diesen Tom verliebt ist – den ich unbedingt mal kennen lernen will, auch wenn Lasse sagt, ich werde enttäuscht sein – und dass sie deswegen so unglücklich ist, weil er nicht so empfindet. Und nicht zur Uni geht, weswegen sie ihn nicht sieht.
Und gerade kann ich sehr gut nachvollziehen, wie deprimierend das ist. Wenn man sich freut, in der Vorlesung neben jemandem sitzen zu können, der dann gar nicht kommt.
In unserer kleinen Kaffeepause sage ich Lasse, dass er mir unbedingt schreiben muss, ob sie auftaucht. Das hat zur Folge, dass ich mehrmals pro Minute mein Handy checke, sobald ich im Hörsaal sitze. Ein paar Minuten, nachdem die Vorlesung begonnen hat, erscheint eine Nachricht auf meinem Display.
Lasse: Sie ist hier. Sieht ziemlich fertig aus, fast noch müder als letzten Montag. Ob ihr schon mal jemand gesagt hat, dass man deswegen am Wochenende feiern geht, und nicht am Sonntag? :D
Anne: Hey, sei nicht so fies! Sie kann sich das leisten, sie sieht doch trotzdem toll aus.
Anne: Außerdem, was soll sie denn machen, wenn Tom halt Sonntags trinkt? Und du weißt ja gar nicht, ob sie nicht Freitag, Samstag und Sonntag feiern war.
Anne: Aber ich wette es war mit Tom. Meinst du, du könntest sie unauffällig fragen?
Als Antwort schickt Lasse nur ein Bild. Man sieht eigentlich nur Haare, einen langen blonden geflochtenen Zopf, der auf dem Tisch liegt, über verschränkten Armen. Also schläft sie schon wieder. Ich starre das Bild viel zu lange an, bevor ich mit einem Lachsmiley antworte, und das Handy dann wegpacke.
Als die Vorlesung vorbei ist, packe ich eilig meine Sachen, und eile zum Mathegebäude, um Lasse von seiner Vorlesung abzuholen. Eigentlich treffen wir uns immer in der Mensa, aber ich möchte Mary fragen, ob sie uns begleiten möchte.
Als ich dort eintreffe, verlassen die beiden gerade das Gebäude. Mir schießt für einen Moment durch den Kopf, was für ein hübsches Paar sie abgeben würden, aber ich vergesse den Gedanken gleich wieder, als sie näher kommen. Mary sieht wirklich fertig aus, mit tiefen Augenringen und einem leere Blick, als wäre sie gar nicht wirklich anwesend.
„Hey, na wie geht's euch?" frage ich unsicher. Ich würde sie gerne in den Arm nehmen, sie sieht so verloren aus. Aber dafür kennen wir uns noch nicht gut genug. Sie schaut auf, sieht mich, und sofort erscheint ein Lächeln auf ihren Lippen.
„Hey, ganz gut und dir?" Die Antwort klingt automatisch, ich glaube nicht, dass sie darüber nachgedacht hat. Aber ich sage nichts dazu, was denn auch. Glaub ich dir nicht, du siehst echt scheiße aus? Erzähl mir was dich bedrückt, ich will dich trösten? Lieber nicht.
„Ja auch, danke. Sag mal, hast du jetzt was? Sonst könntest du mit uns in die Mensa kommen, die ist echt ganz gut."
Sie mustert mich, ich kann sehen, wie sie überlegt. Ich glaube schon, dass sie gleich ablehnen wird, mit irgendeiner Ausrede, die sie sich gerade noch ausdenkt, doch dann sagt sie „Gerne, da war ich noch gar nicht."
„Na prima, dann können wir ja los." Lasse grinst mich an und setzt sich in Bewegung. Ich bleibe leicht hinter ihm, um neben Mary zu laufen. Sie lächelt mich noch einmal an, sagt aber nichts, während wir den Kiesweg entlanggehen, an dem riesigen Haupthörsaalgebäude aus rotem Backstein vorbei und weiter zum viel neueren Glaskomplex, der die Mensa beherbergt.
Wir stellen uns an und gelangen recht bald an die Ausgabe, an der sich Salate sowie Hauptgerichte und einige Nachtische stapeln. Lasse und ich langen ordentlich zu, während Mary sich nur eine Apfelschorle aus dem Kühlschrank neben den Kassen nimmt. Sie bezahlt schnell und wartet dann auf uns.
„Isst du denn nichts?" Lasse schaut kritisch auf ihr Getränk.
„Nein, ehrlich gesagt ist mir noch etwas schlecht." Sie grinst schwach und folgt uns, bis wir einen freien Tisch entdecken.
Während dem Essen schweigen wir alle, Lasse und ich, weil wir mit unserem Kartoffelauflauf beschäftigt sind, Mary, weil sie müde ihre Apfelschorle trinkt.
Als wir aufgegessen haben, unterhalten wir uns ein bisschen. Sie erzählt uns, dass sie in einem Wohnheim ganz in der Nähe wohnt, und Lasse berichtet, dass wir quasi Nachbarn sind, er aber die meiste Zeit bei mir verbringt.
„Du musst mal vorbeikommen, hinter unserem Haus gibt es eine echt tolle Schaukel.", lade ich sie enthusiastisch zu mir ein, nur um es im selben Moment zu bereuen. Wir haben eine Schaukel? Wie dumm klingt das denn. Aber Mary scheint es nicht zu stören.
„Ja klar, sehr gerne. Es ist ja noch wirklich gutes Wetter, wir könnten ein Picknick machen oder so."
„Das ist eine tolle Idee, wann hast du denn Zeit?"
„Ähm, morgen Abend vielleicht? Heute muss ich erstmal etwas Schlaf nachholen."
„Das klingt super, dann morgen Abend. Bis wann hast du Uni? Ich hätte ab fünf Uhr Zeit."
„Fünf klingt gut, wollen wir dann gleich gemeinsam einkaufen gehen? Dann können wir uns dabei überlegen, worauf wir Bock haben." Mary wirkt jetzt wacher und wirklich begeistert von der Idee. Ich wusste doch, dass wir uns anfreunden werden, ich bin so froh, dass ich sie eingeladen habe.
„Ist das so ein Mädchending oder bin ich da auch eingeladen?" Lasse wirkt amüsiert. Ich mustere ihn gespielt kritisch.
„Na was meinst du, ist er auf unserem Picknick gestattet?" Ich schaue Mary fragend an, jetzt nur noch halb im Spaß. Ich weiß gar nicht, was mir lieber wäre, wenn er dabei ist oder wenn wir zu zweit sind, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Mary grinst ihn frech an.
„Nur, wenn du dir auch dein schönstes Sonntagskleid anziehst, oder was meinst du Anne?"
Ich muss bei dem Gedanken an Lasse in einem meiner Kleider laut auflachen.
Gleichzeitig bewundere ich, wie schön mein Name klingt, wenn sie ihn ausspricht. Er war mir immer ein bisschen zu öde, ich wirke zwar vielleicht wie eine langweilige Streberin, aber das bedeutend nicht, dass es mir gefällt, so zu heißen, wie das typische brave Mädchen von 1950. Erst als ich die Bücherreihe „Anne auf Green Gables" las, erwärmte ich mich ein bisschen für den Namen. Deutsch ausgesprochen ist er aber halt trotzdem todlangweilig. Aber mit Marys angenehmer, dunkler Stimme klingt er plötzlich ganz anders, und ich habe das Bedürfnis, ihn in Zukunft öfter aus ihrem Mund zu hören.
Lasse lacht auch, und wir beschließen, dass er mit darf, wenn er etwas von seinem selbstgemachten Apfelwein mitbringt. Mary ist ganz begeistert, als er von diesem Hobby erzählt.
Schließlich trennen wir uns, weil wir alle noch eine Vorlesung haben. Ich denke während meiner aber eher darüber nach, welche Köstlichkeit ich heute Abend backen könnte, um sie dann morgen mit auf das Picknick nehmen. Meine selbstgemachten Brownies nach dem Rezept meiner Oma können eigentlich nicht falsch sein oder? Wenn sie keine Schokolade mag, ist diese Freundschaft sowieso zum scheitern verurteilt. Aber wenn sie eine Nussallergie hat? Hoffentlich nicht. Ich schreibe Lasse, was er meint, aber der schickt nur Lachsmileys zurück. Sehr hilfreich.
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Und dann kamst du
RomanceAnnes Leben ist komplett vorherbestimmt. Und sie liebt es. genau wie ihr Germanistikstudium und ihren Freund Lasse, den gutaussehenden Informatiker. Mary ist neu in der Stadt, überfordert von ihrem Leben und furchtbar unglücklich verliebt. Am ersten...