Der Fluch der Freiheit

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Anne

So. Die letzte Prüfung geschafft.

Ich trete aus dem Unigebäude und atme die klare, kühle Luft ein. Ich müsste mich irgendwie erleichterter fühlen. Das war die letzte Klausur, jetzt liegen knapp zwei Monate Freiheit vor mir, wenn ich nirgends durchgefallen bin. Und da bin ich sehr zuversichtlich.

Aber ich habe mich noch nie gebührend über die freie Zeit zwischen den Vorlesungen gefreut. Klar war ich froh über Zeit zum Reisen und um alle Bücher zu lesen, die ich unterm Semester nicht geschafft oder für die Prüfungsphase bei Seite gelegt hatte, aber mir fehlt gleichzeitig immer das Lernpensum, und ohne konkrete tägliche Aufgaben gehe ich nach spätestens einer Woche ein. Ich fühle mich dann immer so furchtbar faul und unproduktiv.

Dennoch war ich nach den letzten Prüfungsphasen zumindest eine kurze Weile erleichtert, alles zu meiner Zufriedenheit gemeistert zu haben.

Doch statt des erhofften Endorphinschubs habe ich das Gefühl, als würde ich über einem Abgrund schweben, nicht genau wissend, was mich gerade davon abhält, in die Tiefe zu stürzen.

Und ich weiß genau, wovor ich mich fürchte. Es ist eine Woche her, dass Mary einfach heimgefahren ist, ohne sich zu verabschieden. Ich wachte nichts ahnend bei Lasse auf, musste erst einmal erneut die Tatsache verarbeiten, dass wir uns getrennt hatten und dass ich in Mary verliebt bin, denn an so etwas gewöhnt man sich ja nicht über Nacht. Und dann mache ich mein Handy an, und lese nur die Nachricht, dass Mary Heimweh hatte und direkt nach ihrer Prüfung nach Hause gefahren ist.

Lasse las über meine Schulter hinweg mit, und noch bevor ich diese Nachricht ganz begreifen konnte, verordnete er mir, mir nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, sondern mich aufs Lernen für die letzte Prüfung zu konzentrieren. Und zumindest für den Moment hörte ich auf ihn, fuhr nach Hause, ging dabei im Kopf alle schon gelernten Daten und Namen noch einmal durch und stürzte mich daheim förmlich auf meine Bücher, um keine anderen Gedanken aufkommen zu lassen. Ich schaffte es tatsächlich, mich den Großteil des Tages beschäftigt zu halten, und noch bevor ich mit meinem Tagespensum fertig war, stand der liebe Lasse in meinem Türrahmen. Er machte es sich auf meinem Bett bequem und ließ mich weiter lernen.

Und dann erklärte er mir die seiner Meinung nach wahrscheinlichsten Theorien, warum Mary abgehauen war, und führte dazu die jeweiligen Gründe auf, warum ich jetzt gerade nichts dagegen unternehmen könne und mich mit der ganzen Sache erst nach meiner Prüfung auseinandersetzte sollte. Mir stiegen die Tränen in die Augen bei solcher Fürsorge, aber bevor ich noch emotionaler werden konnte, lenkte er mich gekonnt mit einer Kitzelattacke ab.

Und seitdem hat er mich in den Stunden, die ich nicht mit Lernen verbrachte, keine Minute allein gelassen und so dafür gesorgt, dass ich so wenig wie möglich über Mary nachgrüble. Wir hatten auch nur wenig Kontakt, weil ich mein Handy zum lernen die meiste Zeit ausstelle und sie die Abende mit ihrer Familie oder ihren Freunden verbringt, und deswegen wenig online ist.

Aber jetzt habe ich keine Ablenkung und kein Ziel mehr, und alles droht zusammen zu stürzen.

„Eeeey, wir haben es geschafft, wir sein frei!" Ich war so in Gedanken, dass ich Lasse gar nicht habe kommen sehen. Sein „wir" ist auch etwas übertrieben, seine letzte Prüfung war schon vorgestern, aber er versucht wohl, meine fehlende Freude durch seinen Enthusiasmus hervorzuzaubern.

„Jei, mein Leben hat keinen Sinn mehr."

„Anne, du bist spinnst komplett, das weißt du schon oder? Der Sinn des Studentenlebens ist es, den größtmöglichen Umfang an Freizeit herauszuschlagen und in dieser dann zu feiern, sich zu entspannen und auf keinen Fall zu arbeiten. Mit deinem Wunsch nach ständiger Beschäftigung bist du eine wahre Schande der ganzen Studentenschaft."

„Jaja, musst du gerade sagen. Wer hat sich denn die letzten zwei Tage förmlich eingemauert um in Ruhe sein neues Programmierbuch zu lesen? Und zwar ganz freiwillig, obwohl du eigentlich deine letzte Prüfung hättest feiern müssen?"

„Hast Recht, du hast einen ganz furchtbaren Einfluss auf mich. Wie konnte ich nur so tief sinken." Er hält sich wie ein schlechter Schauspieler die Hände an beide Wangen und bildet mit seinem Mund ein großes ovales O. Dabei sieht er so dämlich aus, dass ich anfangen muss zu lachen.

„Wie kannst du dich an meinem Unglück nur so ergötzen?" spielt er weiter, doch dann kann er sich nicht mehr zusammen reißen und muss auch lachen.

„Aber jetzt werden wir beide unsere Freiheit erstmal gebührend feiern. Magda und Jonas sind gestern angekommen und nachdem ich ihnen erzählt habe, dass du heute deine letzte Prüfung schreibst, haben sie beschlossen, uns zu einem schönen Weißwurschtfrühstück einzuladen. Indem wir um 11 Uhr morgens mit dem Trinken anfangen, zeigen wir uns unserem Studentenstatus wieder als würdig, denke ich."

„Iiih, ich mag kein Weißbier, und schon gar nicht zum Frühstück." Ich versuche, möglichst angewidert zu schauen, aber es will mir nicht so ganz gelingen. Ein tolles Frühstück mit unseren alten Freunden und Alkohol ist genau das, was ich jetzt brauche.

„Keine Sorge, Jonas hat bestimmt auch Wodka da."

„Zum Frühstück?" Auch wenn ich es eigentlich gebrauchen könnte.

„Kleiner Spaß, den Wodka gibt es erst später, Martha meine sie besorgt Hugo für euch Mädls. Mike ist natürlich dabei, und Sabi meinte, wenn wir bis heute Abend durchhalten ist sie auch am Start."

„Das klingt großartig, wieso habe ich davon nichts mitbekommen?"

„War eine spontane Idee und ich wollte dich nicht vom Lernen ablenken, also dachte ich, wir planen das mal ohne dich."

„Wie aufmerksam von dir!" Ich zwinkere ihm strahlend zu. Ich bin mir sicher, dass er wusste, dass ich nach der Prüfung eine Ablenkung gebrauchen könnte, und sich das Treffen deswegen als Überraschung aufgespart hat. Ich habe einen so tollen Freund. Ähm, besten Freund mein ich natürlich.

Oh.

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt