Anne
„Stehst du auf sie?"
„Was?"
„Ob du auf Mary stehst." Ich wusste, es war dumm zu fragen, er muss ja widersprechen, völlig egal was stimmt. Aber wir reden eben immer über alles, also möchte ich auch darüber mit ihm sprechen. Er ist auch der einzige, den ich zum reden habe, ich kann ja schlecht mit Mary selbst darüber reden.
„Nein? Wie kommst du denn darauf?" Er wirkt entgeistert, als könne er wirklich nicht verstehen, wie ich auf so eine Idee komme, aber ich glaube auch ein kleines bisschen Schuldbewusstsein aus seiner Stimme zu hören, oder bilde ich mir das ein?
„Na wie du sie anschaust, und wie herzlich du sie heute begrüßt hast..." Er hatte sie ganz fest in die Arme geschlossen, und lange an sich gedrückt. Nicht das ich es ihm verübeln könne, sie sah wirklich fertig aus. Und wir hatten sie seit mehr als einer Woche nicht mehr gesehen.
„Du bist ihr zu erst um den Hals gefallen, das weißt du schon noch, oder? Und du hast genauso gut wie ich gesehen, dass es ihr echt scheiße ging. Ich frage mich, ob sie überhaupt etwas gegessen hat in der letzten Woche, sie wird immer dünner."
„Siehst du, du machst dir Sorgen um sie und widmest ihr so viel Aufmerksamkeit, dass dir sowas auffällt." Aber er hat ja Recht, auch ich habe es mit Sorge registriert. Mary isst sehr selten in unserer Gegenwart, aber sie sagt immer, sie hätte keinen Hunger. Und bei den Gelegenheiten, bei denen sie etwas isst, langt sie eigentlich ordentlich zu. Aber trotzdem hat sie wirklich abgenommen, seit ich sie das erste Mal gesehen habe, und das, obwohl sie schon da eine echte Modelfigur hatte.
„Das meinst du doch nicht ernst Anne." Wir liegen nebeneinander auf meinem Bett, aber jetzt richtet Lasse sich halb auf, beugt sich über mich und nimmt mein Gesicht in seine großen, erstaunlich weichen Hände. Sein Blick ist ernst, als er mich mit seinen dunkelgrauen Augen fixiert. „Ich mag Mary, wirklich, und ich freue mich sehr, dass wir eine neue gute Freundin dazu gewonnen haben, aber das wars. Ich sorge mich einfach um sie, wie ich mich um jeden guten Freund sorgen würde. Aber ich hege keinerlei romantischen Gefühle für sie, und sie wird auch nie so wichtig für mich sein wie du. Ich liebe dich, und nur dich, meine Anne."
Ich sehe ihm tief in die Augen, und ich spüre, dass er die Wahrheit sagt. Er könnte und würde mich niemals so anlügen, dafür kennen wir uns viel zu gut. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen, und ich vertraue ihm jetzt, ich weiß einfach, dass er die Wahrheit sagt.
„Okay, tut mir leid, dass ich auch nur darüber nachgedacht habe. Es ist nur..."
„Ja? Was denkst du, sprich es aus."
Ich weiß nicht ganz wie ich es formulieren soll, es klingt komisch. Aber egal, es ist Lasse, er wird mich verstehen, auch, wenn ich es nicht mal selbst tue. „Ich würde es verstehen, weißt du? Sie ist so toll und lustig und klug und so verdammt hübsch und hat so eine super Figur und ihre Haare....naja und sie weckt doch irgendwie einfach das Bedürfnis in einem, sie glücklich zu machen, oder? Ich verstehe quasi gar nicht, wie du dich nicht in sie verlieben kannst, weißt du, was ich meine?" Bestimmt nicht, ich weiß es ja nicht mal selber. Aber seine Reaktion überrascht mich.
„Oh Anne, meine süße kleine Anne, ich verstehe genau, was du meinst. Aber das ändert nichts an dem, was ich gesagt habe." Lasse sieht mich mit einem belustigten Ausdruck in den Augen an, liebevoll neckend, aber da ist noch eine Emotion, die ich nicht ganz einordnen kann.
***
Später am Abend kann ich, wie so oft in letzter Zeit, nicht einschlafen, obwohl ich sicher und geborgen in den Armen meines Freundes liege, der mich über alles liebt. Eigentlich müsste ich mich doch freuen.
Ich bin natürlich erleichtert, dass da nichts ist. Selbstverständlich. Wie sollte es anders sein, ich kann mir doch nicht wünschen, dass mein bester Freund auf meine beste Freundin steht? Also fester Freund meine ich natürlich. Das kann ja niemand wollen.
Aber wenn ich ganz ehrlich zu mir, bin ich etwas enttäuscht. Als hätte ich mir genau das gewünscht...ich muss wirklich aufhören mir diese bescheuerten Geschichten auszudenken. Geschichten, in denen Lasse mich für Mary verlässt, sie aber nur mit ihm zusammen sein möchte, wenn das für mich okay ist, ich ihnen meinen Segen gebe und wir drei für immer unzertrennlich bleiben...
Ich meine, wie stelle ich mir das vor? Wie sollte ich meinen Eltern erklären, dass ich meinem Exreund verzeihe, dass er mich für meine beste Freundin verlässt und dass ich mit beiden eng befreundet bleiben möchte? Sie würden ihn hassen, für mich, obwohl das gar nicht nötig wäre, und ich könnte es nicht ertragen, wenn er nicht mehr willkommen wäre bei uns...
Okay halt Stopp, was soll das. Ist die Meinung meiner Eltern wirklich das einzige Problem an dieser Sache? Was zur Hölle ist denn falsch mit mir. Ich liebe Lasse und möchte ihn auf keinen Fall verlieren. Ich werde ihn heiraten verdammt nochmal, da müsste es mir doch etwas ausmachen, wenn er mich verlassen würde?
Ich sollte schlafen, ich glaube mein Hirn hat einen starken Schlafmangel und deswegen denke ich so einen Unsinn. Dass dieser Schlafmangel daher rührt, dass ich nachts wach liege und an eine grünäugige Schönheit denke, möchte ich gar nicht weiter analysieren.
Genauso wenig wie den Fakt, dass es meine gesamte Stimmung beeinträchtigt hat, sie so lange nicht zu sehen. Sie hatte am Dienstag geschrieben, dass es ihr nicht so gut ginge und sie deswegen nicht in die Vorlesung kommen würde, und als ich mir am Donnerstag langsam ernsthafte Sorgen machte und für einen Krankenbesuch bei ihr vorbeikommen wollte, erzählte sie mir, dass sie spontan nach Hause gefahren sei.
Wir schrieben am Wochenende ein bisschen, sie meinte, sie genieße es, mal wieder Zeit mit ihrer Schwester zu verbringen, aber ich konnte trotzdem durch die Nachrichten hinweg spüren, dass es ihr nicht gut ging. Aber sie sprach es nicht an und ich wollte sie nicht unter Druck setzten. Ich vermisste sie wirklich, und konnte es kaum abwarten, sie endlich wieder zu sehen. Und heute war sie dann endlich wieder gekommen, ausgerechnet an einem Mittwoch, der einzige Tag, an dem wir keine gemeinsame Vorlesung haben. Aber zum Glück kam sie ausnahmsweise so früh zur Mathevorlesung, dass ich mit Lasse noch vor dem Hörsaal saß.
Ob sie das mit Absicht gemacht hat, um mich zu sehen? Schließlich weiß sie genau, dass ich meine freie Zeit immer in Lasses Nähe verbringe. Und sie ist ja sonst wirklich nie früh dran.
Unwillkürlich muss ich lächeln, sie wollte mich bestimmt sehen. Was sie wohl denken würde, wenn sie wüsste, wie ich grade nur wegen diesem Gedanken in die Dunkelheit strahle?
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Und dann kamst du
RomanceAnnes Leben ist komplett vorherbestimmt. Und sie liebt es. genau wie ihr Germanistikstudium und ihren Freund Lasse, den gutaussehenden Informatiker. Mary ist neu in der Stadt, überfordert von ihrem Leben und furchtbar unglücklich verliebt. Am ersten...