Anne
„Und was hast du jetzt vor? Gehst du direkt zu ihr und gestehst ihr deine Gefühle?" Lasse grinst mich mit einem wissenden Ausdruck in den Augen an.
Ich bin ihm sehr dankbar, dass er das Thema wieder angeschnitten hat. Ich hatte es zwar nicht gemerkt, aber er hat schon recht damit, dass unsere Gespräche nicht nur seltener, sondern irgendwie auch etwas distanzierter geworden waren in letzter Zeit, und da wollte ich jetzt, wo wir endlich wieder als echte beste Freunde völlig offen miteinander reden, nicht gleich wieder mit Mary anfangen, dabei wäre ich mir echt blöd vorgekommen. Aber in meinem Kopf rasen so viele Gedanken umher, noch viel schneller als sonst, und sie drehen sich natürlich fast alle um Mary. Und da Lasse mich offensichtlich besser kennt als ich mich selbst, weiß er das auch.
„Ich hab keine Ahnung. Einerseits will ich es ihr direkt sagen, andererseits wäre es viel cooler, es ihr in einer großen romantischen Geste zu gestehen. Aber eine Entführung nach Disneyland lässt sich halt irgendwie gar nicht toppen. Und wenn sie die Gefühle doch nicht erwidert, wird es dann richtig peinlich. Und ich weiß überhaupt nicht, wie ich das meinen Eltern erklären soll. Die sind doch genauso davon ausgegangen, dass ich dich heirate. Alleine dass wir getrennt sind, wird eine riesige Enttäuschung für sie sein. Und ich weiß nicht mal, ob sie den Gedanken ertragen könnten, dass ich eine Lesbe bin. Und selbst wenn, ich will mir nicht mal ausmalen, wie sie reagieren würden. Ich kann es ihnen nicht sagen, das geht nicht." Verzweifelt schaue ich ihn an. Sein Gesichtsausdruck ist von liebevoll und belustigt zu ernst und besorgt übergegangen.
„Ich weiß, dass deine Eltern nicht gerade die Liberalsten sind, vor allem, wenn es um so etwas wie die Ehe für alle geht, aber ich bin mir ganz sicher, dass sie diese Sicht ändern können und werden, wenn du ihnen davon erzählst. Sie sind so liebevoll und haben uns beide immer so gut behandelt, ich kann mir wirklich nicht vorstellen, dass sie dich deswegen auch nur ein My weniger lieben."
„Ja, so vom Gefühl her würde ich das auch sagen, aber andererseits werden sie es nie verstehen. Du weißt doch, dass sie denken, dass Homosexualität unnatürlich ist, weil es evolutionär keinen Sinn ergibt. Eigentlich total bescheuert, sie sind wegen ihrer religiösen Erziehung dagegen und rechtfertigen das mit der Evolutionstheorie, die der Bibel ja auch widerspricht. Woah, ich könnte mich einfach so aufregen, aber das bringt ja auch nichts, und sie sind auch einfach nicht vom Gegenteil zu überzeugen. Und ich hab sie zu lieb, als dass ich ihnen einfach als Argument ins Gesicht klatschen könnte, dass ich selber auf Frauen stehe. Ich könnte es nicht ertragen, sie so sehr zu enttäuschen." Verzweifelt reibe ich mir mit beiden Händen über mein Gesicht.
Der heutige Abend ist gefühlsmäßig wirklich eine einzigartige Achterbahn, so etwas habe ich noch nie erlebt. Erst die Scham und das Schuldgefühl, weil ich nach so langer Zeit nicht mal geil wurde vom Vorspiel, dann das Entsetzen und die Trauer, als Lasse mir erklärte, dass wir nicht mehr als Paar zusammen gehören, die Erleichterung und das Glück, als ich mir die Liebe zu Mary eingestand und für einen kurzen Moment wirklich eine traumhafte Zukunft sehen konnte, für uns als Pärchen mit Lasse als unserem besten Freund, und dann der harte Schlag der Realität, als mir aufging, dass ich vermutlich nie offen eine Beziehung mit Mary führen kann, weil ich dafür meinen Eltern davon erzählen müsste.
Wobei ich natürlich auch weiter machen könnte wie bisher, also auch wenn Mary und ich zusammen kommen. Einen großen Unterschied würde es wahrscheinlich nicht machen, aber es ist natürlich unschön, eine Lüge zu leben, und irgendwann muss ich es ihnen ja sagen. Aber das kann ich nicht, ich habe zu viel Angst vor ihrer Reaktion.
„Ja, ich weiß schon, dass sie da sehr starr an ihrer Sichtweise festhalten. Aber ich glaube wirklich, dass sich das ändern würde, sobald du es ihnen sagst. Also, vielleicht nicht sofort, sie müssten sich wahrscheinlich erstmal an den Gedanken gewöhnen. Aber das werden sie, und dann werden sie lernen dich so zu akzeptieren wie du bist, und vielleicht sogar ihre ganze Einstellung zu dem Thema überdenken."
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Und dann kamst du
RomanceAnnes Leben ist komplett vorherbestimmt. Und sie liebt es. genau wie ihr Germanistikstudium und ihren Freund Lasse, den gutaussehenden Informatiker. Mary ist neu in der Stadt, überfordert von ihrem Leben und furchtbar unglücklich verliebt. Am ersten...