Betrunkene Gedanken

22 2 0
                                    

Mary

Ich konzentriere mich auf meinen Atem, versuche, ruhig und gleichmäßig ein und aus zu atmen. Aber es geht nicht. 

Irgendwie habe ich verlernt, wie man normal atmet. Auf jeden Fall kriege ich es nicht richtig hin. 

Vielleicht ist der Alkohol Schuld. Ich kann förmlich spüren, wie er durch meinen Körper fließt und meine Gedanken verwirbelt. Mein ganzer Körper kribbelt und ich sehne mich nach Körperkontakt. Neben mir liegen Lasse und Anne eng verschlungen, und ich fühle mich schrecklich einsam. 

Sie haben es so gut. Ich will das auch. 

Zum ersten Mal seit ein paar Stunden denke ich an Tom. Den ganzen Abend hatte ich wirklich Spaß, und dachte kaum daran, was er wohl machte, und warum ich nicht eingeladen war. Wir haben uns jetzt schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen, das ist wirklich hart. 

Aber als Anne in meinem Schoß lag, war ich einfach nur vollkommen glücklich, ohne ihn zu vermissen, ohne auch nur an ihn zu denken. Doch jetzt liegt sie in Lasses Armen, und ich wünsche mir so sehr, ich könnte zu Tom. Seine Hände auf meinem Körper spüren...

Aber Tom ist nicht hier, und er möchte ganz offensichtlich keine Zeit mit mir verbringen.

 Vielleicht hat er eine neue Freundin. Oh nein, er darf keine neue Freundin haben. Das könnte ich nicht ertragen.

Ich bin in diese Stadt gezogen, weil ich es nicht ausgehalten habe, ihn so wenig zu sehen, nachdem er umgezogen ist. Ich dachte, ich müsse ihm einfach nur hinterher ziehen, und dann würde alles wie früher, und ich könnte wieder glücklich sein. Ohne diese ständige Sehnsucht nach ihm. Aber das war natürlich total ein total bekloppter Plan. 

Selbst wenn wir so viel machen würden wie früher, würde ich mich nach ihm sehnen. Danach sehnen, dass er so für mich empfindet, wie ich für ihn. Danach sehnen, dass er so ist, wie in meinen Träumen.

Ich träume ständig von ihm, vor allem momentan, wo ich ihn so wenig sehe. Es ist, als würde mein Unterbewusstsein seine Abwesenheit ausgleichen wollen. In meinen Träumen sind wir kein Paar, wir küssen uns nicht einmal. Wir kuscheln bloß, aber nüchtern, und ich kann spüren, dass er dasselbe empfindet wie ich. Manchmal reden wir, nicht darüber, sondern einfach nur so, aber es ist trotzdem klar. In meinen Träumen liebt er mich. In meinen Träumen bin ich das glücklichste Mädchen der Welt.

Manchmal ist das Aufwachen wie ein Schlag ins Gesicht. Wenn mir klar wird, dass es nur ein Traum war. Ein Traum, der sich niemals erfüllen wird. An diesen Morgen ist die Sehnsucht am schlimmsten. Weil es sich so real angefühlt hat. Es ist, als hätte ich wirklich erlebt, wie es ist, von Tom geliebt zu werden, nur um ihn dann wieder zu verlieren.

Wenn ich Glück habe, wache ich sanft auf. Dann döse ich noch ein bisschen vor mich hin, versuche den Traum festzuhalten, weiß aber, dass es nur ein Traum war. Dann habe ich mehr Zeit, mich in der grausamen Realität wieder zurecht zu finden. Traurig bin ich trotzdem, auch an den guten Tagen.

Ich könnte ihm schreiben. Wenn er noch wach ist, ist er bestimmt betrunken. Betrunken ist er meistens netter. Fast liebenswürdig. Ich liebe den betrunkenen Tom noch viel mehr als den nüchternen.

Früher, als wir betrunken noch tiefsinnige Gespräche geführt haben, dachte ich manchmal, mein Herz müsse platzen vor lauter Liebe. Das klingt furchtbar kitschig, aber genau so war es. Ich dachte, er müsse doch spüren, wie ich vor Liebe überfließe. Aber entweder er hat es nicht gespürt, oder er wollte es einfach nicht wahr haben. Das sind die beiden Optionen, die irgendwie beide gleich wahrscheinlich sind, egal wie oft ich darüber nachdenke. Manchmal tendiere ich zur einen, manchmal zur anderen, aber eigentlich tappe ich völlig im Dunklen.

Ich spähe zu Anne und Lasse, sie scheinen beide tief und fest zu schlafen. Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, angle ich nach meinem Handy, das ich neben dem Bett auf dem Boden abgelegt habe. Ich gehe auf den Chat mit Tom und starre auf seinen Namen. Er ist nicht online, und hat natürlich auch eingestellt, dass ich nicht sehen kann, wann er das letzte Mal online war. Es ist 4 Uhr nachts, aber das muss nichts heißen, nicht in seiner WG.

Ich starre eine gefühlte Ewigkeit auf seinen Namen, wie ich es schon so oft getan habe.

Ich sollte ihm nicht schreiben, das wäre total blöd. Und ich bin betrunken, nüchtern würde ich es bestimmt nicht machen. 

Wenn er nicht antwortet, werde ich die ganze Nacht verzweifeln, das ist mir glasklar. Wahrscheinlich würde es hauptsächlich daran liegen, dass er schläft, aber ich hätte trotzdem Angst, dass er mich einfach ignoriert. Ich werde ihm nicht schreiben, es wäre zu dumm.

Mary: Hey, sag mal wann saufen wir eigentlich mal wieder zusammen?

Manchmal habe ich wirklich das Gefühl, ich bin komplett bescheuert. Ich nehme mir fest vor, etwas nicht zu tun, und zwei Minuten später tue ich genau das. Wie kann man so minderbemittelt sein? Ich starre weiter auf seinen Namen, bereue die Nachricht jetzt schon.

Als plötzlich das Wort „online" unter seinem Namen erscheint, erschrecke ich mich fast ein bisschen, als könnte er sehen, wie ich die ganze Zeit auf den Chat gestarrt habe.

Ich schließe Whatsapp, nur um es noch in derselben Sekunde wieder zu öffnen. Er schreibt. Ich atme erleichtert auf, ich werde eine Antwort bekommen, immerhin.

Tom: So spät noch wach?^^ Sonntag geht bestimmt wieder was, da kannst du vorbeikommen wenn du magst :)

Wow. Er hat sogar einen Smiley geschrieben. Und er hat mich eingeladen. Ich strahle mein Handy an.

Mary: Du doch auch :D Klingt gut :)

Wir schreiben noch kurz, und als er mir eine gute Nacht wünscht lege ich mein Handy weg.

Ich bin so glücklich, ich könnte die ganze Welt umarmen. Ich würde gerne Anne umarmen, mich an sie kuscheln. Sie liegt jetzt mit dem Gesicht zu mir gedreht, ich kann im schwachen Mondschein, der durch das Fenster kommt, ihre feinen Gesichtszüge erkennen. Sie ist so verdammt hübsch. Ich betrachte ihr Gesicht noch eine ganze Weile, bewundere die zarten Wangenknochen, die langen schwarzen Wimpern. Wie kann man so schön sein. Ich könnte sie ewig bewundern, ohne mich zu langweilen. 

Als mir endlich die Augen zufallen, lächle ich immer noch glücklich vor mich hin.

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt