Mary
Ich eile über den taureifen Rasen zum nächsten Gebäude. Ich bin zu spät dran, wie immer. Ich stolpere über eine Wurzel, doch bevor ich auf dem Boden aufschlage, fängt mich plötzlich Anne auf. „Was machst du denn hier? Ich muss weiter, ich komme zu spät." Aber sie lässt mich nicht los, stattdessen zieht sie mich auf die Beine und dann ganz eng an sich heran. Ihr Gesicht kommt immer näher und mein Herz fängt wie wild an zu pochen, als ich anfange zu ahnen, dass sie mich gleich küssen wird. Ich schließe meine Augen, kann die Berührung unserer Lippen kaum noch erwarten. Ich spüre, dass mein Herz gleich aus meiner Brust springt.
Ich reiße meine Augen auf und starre ins Dunkle. Einen Moment lang bin ich völlig verwirrt, doch meine Gedanken klären sich schneller als mir lieb ist. Mein Herzschlag muss mich geweckt haben, ich spüre das wilde Klopfen durch den ganzen Körper. Wieder mal möchte ich mein Unterbewusstsein am liebsten ohrfeigen. Hat es denn nichts besseres zu tun, als mich mit unfassbar realistischen Fantasien zu quälen? Mal ehrlich, gesund kann das nicht sein. Es muss doch irgendeinen besseren Weg geben, eine unerwiderte Liebe zu verarbeiten, als ständig davon zu träumen, dass diese Liebe doch erwidert wird.
Vielleicht ist mein Unterbewusstsein kaputt. Das muss es sein, anders kann ich mir diesen Mist nicht erklären.
Ich blinzle auf mein Handy, es ist 5:20 Uhr. Das ist doch zum heulen. Aber nein, nicht schon wieder. Schlafen kann ich jetzt auf jeden Fall nicht mehr. Ich glaube mein Körper hat wirklich Adrenalin ausgeschüttet wegen diesem fast-Kuss. Im Schlaf. Geht das überhaupt?
Laut Google schon. Und außerdem kenne ich jetzt dank gofeminin.de die schönsten Sprüche zum Verzeihen. Und irgendwie wäre jeder einzelne davon passend für Tom. Aber das hilft nun wirklich niemandem weiter. Er will ja gar nicht, dass ich ihm verzeihe. Unwillkürlich schüttle ich den Kopf. Wunder Punkt, neues Thema bitte. Aber der nächste vorgeschlagene Beitrag verspricht mir die 10 schönsten Arten „Ich liebe dich" zu sagen. Auch nicht gerade passend.
Seufzend lege ich mein Handy weg. Wenn ich schon nicht schlafe, sollte ich meine Zeit wirklich besser nutzen.
Ich klappe meinen Laptop auf und gehe die Psychologievorlesungen noch einmal durch. Das meiste ist wirklich reiner Menschenverstand. Menschen, die sich in ihrer Arbeitsumwelt geschätzt fühlen, gehen lieber zur Arbeit. Nein wirklich? Da wäre ich niemals drauf gekommen. Danke dafür.
Nach 2 Stunden habe ich das komplette Semester noch einmal wiederholt und bin wirklich zuversichtlich, dass ich nur die Hälfte der Zeit brauchen werde und trotzdem eine gute Note schaffe.
Ich packe für meine Heimreise auf die mir eigene, fürchterlich chaotische, aber auch sehr effiziente Art: Ich nehme alle Klamotten, die herumliegen, dass sind eh die, die ich am liebsten trage, und ein paar zusätzliche aus dem Schrank, und werfe sie in meine IKEA-Tasche. Oben drauf kommen noch Unterwäsche, mein Schlafanzug, mein Tagebuch und das Buch, dass ich gerade lese. Den restlichen Kleinkram wie meinen Schminkbeutel, Ladekabel und natürlich meinen Laptop stopfe ich in meinen Unirucksack, und schon habe ich fertig gepackt und parallel mein Zimmer aufgeräumt.
Normalerweise wäre ich stolz auf so viel Produktivität am Morgen, aber der Gedanke, dass ich einfach abhauen werde, deprimiert mich zu sehr. Was total bescheuert ist, denn es ist ja einzig und allein mein Plan. Aber auch wenn mir schon der Gedanke daran wehtut, habe ich immer noch vor, einfach abzuhauen, ohne Anne auch nur Tschüss zu sagen. Ich kann einfach nicht so weitermachen, es bricht mir zu sehr das Herz. Ich muss meine Gefühle für sie loswerden.
Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen, wieder zu hoffen? Wieder bei einem Menschen, der eindeutig nur Freundschaft will, zu hoffen, dass da mehr ist. Was stimmt nicht mit mir.
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Und dann kamst du
RomanceAnnes Leben ist komplett vorherbestimmt. Und sie liebt es. genau wie ihr Germanistikstudium und ihren Freund Lasse, den gutaussehenden Informatiker. Mary ist neu in der Stadt, überfordert von ihrem Leben und furchtbar unglücklich verliebt. Am ersten...