Sorgen

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Anne

Schon zum dritten Mal nehme ich meinen Schal ab und wickle ihn mir neu um den Hals. Er will heute einfach nicht richtig sitzen. Dann fahre ich fort, auf Marys online Status zu starren.

Zuletzt online: Gestern um 18:34.

Es ist jetzt halb 1. Um halb 7 morgens waren es 12 Stunden, also sind es jetzt....halb 8 halb 9 halb 10 halb 11 halb 12 halb 1...oh genau 18 Stunden ist es her. 

Ich mache mir wirklich Sorgen, so sehr, dass es mir völlig egal ist, dass ich nichts von der Vorlesung mitbekomme, und ich mich auch nicht darum sorge, ob jemand gesehen hat, wie ich gerade etwas mit meinen Fingern abgezählt habe. Kopfrechnen ist eine meiner wenigen Schwächen. 

Aber ganz ehrlich, mein früherer Mathelehrer lag ja so falsch, als er sagte, wir würden später nicht überall einen Taschenrechner dabei haben. Nicht, das ich damals damit gerechnet hätte – man, warum bin ich grad allein, das wäre ein toller Wortwitz – aber trotzdem, Smartphones 1 : Mathelehrer 0.

Aber grade hilft mir dieses dumme Ding auch nicht. Ich meine klar, ich könnte sie anrufen, aber das traue ich mich dann doch nicht. Vielleicht liegt sie ja einfach nur glückselig in Toms Bett. 

Auch wenn ich das fast nicht hoffe. Ich habe ihn bisher nur einmal getroffen, aber Mary erzählt ja genug von ihm, und inzwischen bin ich überzeugt davon, dass er sie niemals glücklich machen könnte. Ich verstehe auch wirklich nicht, was sie überhaupt an ihm findet. Aber das versteht sie ja selbst nicht einmal. 

Aber irgendwas muss er echt an sich haben, seine Exfreundin war auch total hübsch und laut Mary sehr lieb, und Maria habe ich auch schon kennengelernt, und ich kann nachvollziehen, warum Mary nicht umhin kann, sie zu mögen. Ehrlich gesagt bin ich ziemlich froh, dass das mit Tom zwischen den beiden steht, sonst wären sie garantiert noch viel besser befreundet, sie sind sich nämlich ziemlich ähnlich. 

Also wie stellt Tom das an, dass solche Mädchen auf ihn fliegen? Und dann ist ihm Maria nicht mal gut genug, dass er offiziell mit ihr zusammen kommt. Sie sagt, dass das okay für sie ist, aber klar, was soll sie denn sonst sagen.

Nun ja, ich bin mir zumindest sicher, dass Marys Nicht-Auftauchen in der Uni etwas mit Tom zu tun hat. Ihre letzte Nachricht an mich ist nämlich, dass sie mit Tom auf einen Weihnachtsmarkt geht, mit dem Smiley mit Herzchen als Augen.

Sie hätte einfach mit mir gehen sollen. Ich meine ja, wir hatten das fürs Wochenende sowieso geplant, aber einmal mehr hätte ja nicht geschadet. Vor allem, weil ich sie viel zu wenig gesehen habe diesen Dezember, ihre Familie ist vernarrt in Weihnachten und so war sie an zwei Adventswochenenden daheim.

Ohje, ich hoffe, er hat sie nicht irgendwie verletzt, dann ist sie garantiert heim gefahren. Immerhin steht ein Adventswochenende an und dann ist am Donnerstag auch schon Weihnachten. Aber wenn sie heimgefahren ist, kann ich sie ja gar nicht trösten. Oder ihr ihr Weihnachtsgeschenk geben. 

Sie muss noch da sein.

Ich schreibe ihr eine weitere Nachricht, dass ich mir Sorgen mache, auch wenn es sinnlos ist, die Nachrichten kommen nicht mal an.

Doch zwei Minuten später leuchtet plötzlich mein Bildschirm auf.

Mary: Sorry, mein Handy hat gestern in der Kälte den Geist aufgegeben und ich habe bis jetzt gepennt.

Ich atme erleichtert auf, dann geht es ihr gut und sie hat nur lange geschlafen. Auch wenn sie nie so lange schläft, Mary ist so oft online, dass ich manchmal das Gefühl habe, sie schläft gar nicht. Völlig egal ob ich nachts um halb 2 oder morgens um 6 schreibe, wenn sie nicht gerade mit Tom unterwegs ist, antwortet sie sofort. Aber gut, anscheinend braucht auch eine Mary mal Schlaf. Sie tippt immer noch, also warte ich erstmal ab.

Mary: Kannst du übers Wochenende weg?

Anne: Was? Wieso? :D

Mary: Warte kurz, ich kläre das grad mit Lasse ab.

Anne:???

Was hat sie vor? Was will sie mit Lasse abklären? Heißt das, dass sie das Wochenende mit mir verbringen will? Vielleicht will sich mich mit zu sich nehmen, für das letzte Adventswochenende. Ja, das ist es sicher. Ich strahle mein Handy an, ich finde die Idee toll.

Anne: Bin dabei!!

Mary: Hat Lasse schon geplaudert????

Anne: Hä nein, ist doch offensichtlich :) 

Mary: Haha sicher nicht :D Aber ist alles geklärt, also, du kriegst dein Weihnachtsgeschenk etwas verfrüht, ich hole dich heute um 4 Uhr bei dir ab, und bis dahin musst du für ein Wochenende gepackt haben, und nimm mindestens eins deiner süßen langärmligen Kleider mit!!

Anne: Ich wusste, dass du mich mit zu dir nimmst. Ich freu mich :*

Mary: Nein, es geht nicht zu mir. Unser Ziel ist geheim, aber du wirst es nicht bereuen mitgekommen zu sein, okay? Vertraust du mir? :*

Was hat sie vor mit mir? Und warum ist es geheim? Aber natürlich vertraue ich ihr, und ich könnte es nie bereuen, sie auf einen Wochenendtrip zu begleiten, selbst wenn wir in die Sahara oder in ein Spukhaus fahren würde.

Anne: Ja klar, ich werde pünktlich fertig sein.

Aber ich schreibe Lasse natürlich trotzdem, um zu fragen, wohin sie mich entführt. Ich meine, ich muss ja die richtigen Sachen einpacken, wie soll das denn gehen, ohne dass ich weiß, wo es hingeht.

Lasse: Lass dich einfach überraschen. Ich komme später vorbei und helfe dir beim Packen, dann kann nichts schief gehen.

Und so sehr ich auch die beiden mit Nachrichten bombardiere, ich kriege nichts aus ihnen heraus. Also lasse ich meine Fantasie spielen. Ich soll schöne Kleider einpacken, dass klingt schon mal traumhaft. 

Aber die Winterkleider, kein Ballkleid oder so. Schade eigentlich, wie schön wäre es, auf einen Winter-Weihnachtsball zu gehen? Gibt es sowas in der Realität überhaupt, oder nur ein meinen Kitschromanen und Filmen?

Vor meinem geistigen Auge sehe ich Mary und mich, wie wir in prachtvollen weiten Prinzessinenkleidern in einen wie ein Winterwunderland dekorierten Ballsaal schreiten. 

Fast will ich mich selber auslachen, mir ist doch echt nicht mehr zu helfen. Aber ganz ehrlich, ich kann nicht die einzige sein, die von so etwas träumt, sonst würde Netflix nicht so viele Filme produzieren, in denen die Hauptperson genau an Weihnachten einen Prinzen kennen lernt und mit ihm auf so einen Ball geht.

Da ich sowieso nicht raus finden werde, was Mary plant, und meine Konzentration ja schon den ganzen Tag durch Abwesenheit geglänzt hat, verbringe ich den Rest der Vorlesung mit Tagträumen von einer Mary in einem türkis glitzernden Traum von Abendkleid, in dem sie an meinem Arm durch einen verschneiten Rosengarten schreitet.

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt