Anne
Ich bin ziemlich nervös. Heute Abend werde ich Mary endlich nach Tom befragen, das habe ich mir fest vorgenommen. Sie sieht immer so traurig aus, also in letzter Zeit noch mehr als sonst, und ich bin mir sicher, dass es etwas mit Tom zu tun hat.
Aber was wenn nicht? Vielleicht sollte ich eher erfragen, was sie so traurig macht? Nicht, dass es am Ende etwas ganz anderes ist und ich blöd dastehe, weil ich denke, dass jeder Kummer etwas mit Jungs zu tun hat.
Es ist Samstagabend, und die meisten Nachbarskinder standen schon in ihren süßen kleinen Hexen-, Gespenster- und Zombie-Kostümen vor der Tür, denn es ist Halloween. Lasse geht Mike auf eine Kostümparty, und wollte mich und Mary eigentlich mitnehmen. Aber als Mary mitbekam, dass ich nicht sonderlich begeistert wirkte, schlug sie vor, dass wir stattdessen einen gemütlichen Cocktailabend bei ihr veranstalten.
Ich war natürlich hellauf begeistert. Ich bin nämlich wirklich kein Fan von Halloween-Kostümpartys, ich verkleide mich zwar gerne, aber halt nur als Prinzessin oder Fee oder irgendetwas Schönes. Aber viel schlimmer ist, dass ich wahnsinnig schreckhaft bin, und dadurch an so einer Party regelmäßig kurz vor einem Herzstillstand stehe, wenn wieder ein maskierter Typ denkt, es wäre witzig, sich von hinten an fremde Mädchen ran zu schleichen und sie zu erschrecken. Bei was für Mädchen zieht sowas denn bitte?
Mary schien jedenfalls auch nicht in Partylaune zu sein, obwohl ich sie eigentlich als Halloweenfan eingeschätzt hätte. Aber umso besser für mich, ich freue mich riesig auf den Mädelsabend, und hoffe, dass wir so viele Cocktails trinken, dass sie gar nicht anders kann, als sich mir betrunken anzuvertrauen.
Wobei die Sache natürlich einen Haken hat. Ich schätze mal, wenn wir etwa gleichviel trinken, liege ich schon unterm Tisch, wenn sie gerade erst betrunken wird. Aber mal sehen, ich krieg das schon hin. Ich habe extra viel gegessen, um eine gute Grundlage zu haben, und sie vermutlich mal wieder nichts, das könnte einiges ausgleichen.
***
Okay, also der Teil mit dem Betrinken ist schon mal aufgegangen. Es ist gerade mal 11 Uhr, und ich lehne betrunken und glücklich an Marys Schulter. Wir befinden uns auf ihrem wirklich schmalen 80cm Bett, das in jedem Zimmer des Wohnheims fest verankert ist. Noch sitzen wir, mit dem Rücken an Kissen gelehnt, auf der Längsseite nebeneinander. Auf Marys Schoß steht ihr Laptop, und wir schauen Gossipgirl, wir hatten beide Lust, die Serie nochmal von vorne anzusehen.
Ich bin viel zu betrunken, um noch nach Hause fahren zu können, und ich glaube auch nicht, dass Mary mich überhaupt weglassen würde, aber auf ihrem Bett wird es ziemlich eng werden zu zweit. Ich bin aber nicht nüchtern genug, um mir eine Meinung dazu zu bilden.
Die Folge ist vorbei und ich schaue vorsichtig hoch zu Mary, überprüfe, ob sie noch wach ist. Sie spürt die Bewegung meines Kopfes und lächelt mich an. „Na, müde? Vielleicht sollten wir schlafen gehen. Mehr trinken wäre auf jeden Fall keine gute Idee, ich sehe den Bildschirm schon leicht verschwommen."
„Oh, gut dass du das sagst, ich hatte mir schon Sorgen gemacht, ich nämlich auch. Ich weiß gar nicht, ob ich schon mal so betrunken war, dass ich doppelt gesehen hab." Ich höre, dass ich leicht lalle und muss kichern.
„Beim Bildschirm passiert das viel schneller, also den sieht man schon mit wesentlich weniger Promille doppelt als alles andere." Die Art, wie Mary mir das ernst erklärt, bringt mich noch viel mehr zum Lachen.
„Du sagst das so, als hättest du Alkoholismus studiert."
„Vielleicht habe ich das ja auch." Jetzt lachen wir beide. Mary hat eine wirklich lustige Lache, manchmal klingt sie ein bisschen wie die Meerschweinchen, die ich früher mal hatte, als meine Eltern meinem Wunsch nach einem eigenen Haustier nachgegeben haben.
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Und dann kamst du
RomanceAnnes Leben ist komplett vorherbestimmt. Und sie liebt es. genau wie ihr Germanistikstudium und ihren Freund Lasse, den gutaussehenden Informatiker. Mary ist neu in der Stadt, überfordert von ihrem Leben und furchtbar unglücklich verliebt. Am ersten...