Du kennst meinen Freund

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Anne

Ich hoffe sie kommt. Sie müsste eigentlich kommen, nach meinen Recherchen. Ja, ich habe ihren Stundenplan gegooglet, einfach aus Interesse. Da sie mit in „Literaturgeschichte II" war, müsste sie auch in diesem Seminar hier sitzen, zumindest steht das bei Lehramt auch im dritten Semester auf dem Plan.

Ich steigere mich in sowas immer viel zu schnell rein, aber in meiner Phantasie ist sie jetzt schon meine neue beste Freundin. Ziemlich traurig eigentlich, dass ich mich so sehr nach einer guten Freundin sehne, dass eine betrunkene Fremde, die sich neben mich setzt, ausreicht, um solche Tagträume auszulösen. Mir war selber gar nicht klar gewesen, dass ich mich so sehr nach einer weiblichen Freundin sehne...

Eigentlich dachte ich immer, Lasse würde mir vollkommen reichen. Auch als wir im Abi noch unseren Freundeskreis um uns herum hatten, als sie sich noch nicht alle zum Studieren in der Welt verteilt hatten, habe ich die meiste Zeit mit ihm verbracht. Klar hatte ich auch Mädelsabende mit meinen Freundinnen, gemütliche Filmabende wie auch durchgemachte Partynächte, als Mädels oder auch mit der ganzen Truppe inklusive Lasse, aber einmal pro Woche war definitiv genug und ich freute mich auch immer darauf, einfach wieder allein mit ihm zu sein.

Deswegen bin ich die letzte zwei Semester echt gut klar gekommen, auch wenn es mir natürlich lieber gewesen wäre, wenn ich irgendwen kennen gelernt hätte. Ich glaube, Lasse macht es etwas mehr aus, dass er niemanden mehr hat, mit dem er am Wochenende Bierpong spielen oder feiern gehen kann. Er hat sich mit einem anderen Informatiker angefreundet, der zwar nach dem ersten Semester den Studiengang gewechselt hat, aber wenigstens unternehmen sie manchmal noch etwas...

„Hi." Ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Da ist sie, und lässt sich wie selbstverständlich auf den Stuhl neben mir sinken. Ich lächle sie an. „Na, heute etwas ausgeschlafener?"

„Etwas, ja." lacht sie.

„Du hast gestern meinen Freund kennen gelernt, hab ich gehört." platze ich mit dem ersten Gesprächsthema heraus, das mir einfällt. Klang das jetzt blöd? Ich hoffe, das kam nicht arrogant rüber.

„Deinen Freund?" Sie schaut mich verwirrt an, ihre grünen Augen schauen direkt in meine, aber ich kann quasi sehen, wie es dahinter arbeitet, sie versucht selbst eine Antwort auf ihre Frage zu finden.

„Ja, Lasse, du hattest gestern Numerik mit ihm." Ich bereue es, ihn angesprochen zu haben, eigentlich würde ich viel lieber mehr über sie erfahren. Außerdem scheint ihr das Thema irgendwie peinlich zu sein, auf jeden Fall ist sie auf einmal recht rot im Gesicht.

„Ach, der ist dein Freund, das ist ja lustig. Also weil ich euch beide gleichzeitig kennen gelernt habe, meine ich. Nicht weil ihr nicht zusammen passt oder so..." Sie verstummt, schaut schnell weg. Findet sie, wir passen nicht zusammen? Hatte sie gehofft, er sei Single? Bestimmt hat sie das gehofft, ein lieber und attraktiver Kerl, der sie an ihrem ersten Unitag anspricht, das ist doch der Traum schlechthin. Ich an ihrer Stelle hätte ihn vermutlich in meinen Gedanken direkt vor den Traualtar geführt. Ich will sie gerade fragen, ob sie einen Freund hat, denn dann wäre das ja alles Unsinn, da beginnt der Dozent mit der Vorlesung.

Ich beginne sofort mit meinen Notizen, ich fasse die Vorlesungen immer direkt zusammen, während sie gehalten werden, so bleibt das meiste davon hängen. Aber heute fällt es mir wirklich schwer, mich zu konzentrieren. Sie fand ihn bestimmt toll, und ist jetzt enttäuscht, dass er zu mir gehört. So hatte ich mir das nicht vorgestellt, jetzt möchte sie sicher nicht mit uns befreundet sein...oder zumindest nicht mit mir. Ihn findet sie bestimmt immer noch toll. Was, wenn sie sich super anfreunden und ich immer nur die nervige Freundin bin, die verhindert, dass sie ihn ganz für sich hat? Das will ich nicht sein, absolut nicht.

Ich merke, dass ich nur mit gerunzelter Stirn auf mein Blatt starre, ohne etwas mitzukriegen, und lenke meine Aufmerksamkeit schnell wieder auf den Dozenten. Ich darf mich wirklich nicht so aus der Fassung bringen lassen, nur weil sie gerade etwas komisch reagiert hat.

Ich schaue unauffällig zu ihr rüber, heute schreibt sie selber mit. Zumindest scheint sie es versucht zu haben, da stehen ein paar Sätze auf dem Block vor ihr. Jetzt gerade schaut sie nach vorne, aber ich glaube nicht, dass sie aufpasst. Sie sieht schon wieder echt unglücklich aus. Ich bin versucht, sie anzustupsen, ihr zu sagen, dass sie ein bisschen lächeln soll, aber das traue ich mich dann doch nicht.

Das nächste Mal schaue ich erst zu ihr, als der Dozent eine Pause macht. Sie hat den Kopf schon wieder in ihren Armen vergraben, schaut aber dann auch auf. Sie lächelt mich irgendwie unsicher an, ich habe das Gefühl, sie will etwas sagen, weiß aber nicht, wie ich sie dazu ermuntern kann. Also frage ich sie, wie es dazu kommt, dass sie mitten im Studium hierher gewechselt hat. Sie erzählt, dass sie davor an einer Eliteuni studiert hat, einfach weil die am nächsten an ihrem Zuhause lag, dass ihr das Studium aber dort überhaupt keinen Spaß gemacht hat, da die Uni viel zu hohe Ansprüche hatte und es bei jeder einzelnen Prüfung nur darum ging, alle herauszusieben, die nicht dem hohen Niveau der Uni entsprachen. Außerdem hatte sie daheim ausziehen wollen und keine Lust mehr auf das stundenlange Pendeln. Wir redeten noch kurz darüber, dass ich noch daheim wohne, das aber auch genieße, dann ging die Vorlesung weiter.

Das Gespräch hat mich erleichtert, es scheint nicht zwischen uns zu stehen, dass Lasse mein Freund ist, zumindest noch nicht. Aber das heißt natürlich nicht, dass es so bleibt. Ich verstehe gar nicht, warum mir nicht gestern schon eingefallen ist, dass sie sich für ihn interessieren könnte. Ich war wohl zu eingenommen von der Idee, mich mit ihr anzufreunden. Ich hoffe einfach, dass ich mich täusche, dass sie entgegen aller Wahrscheinlichkeiten noch keinen Gedanken daran verschwendet hat, dass er mehr werden könnte als ein Kommilitone. Ich passe schon wieder nicht auf, was ist nur los mit mir.

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt