Erinnerungen

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Lasse

Als ich bei Anne daheim klingle, schickt mich ihre Mutter gleich weiter zur großen Wiese hinter ihrem Haus.

Der Anblick bringt mich immer wieder zum Lächeln, meine kleine Anne auf der großen Schaukel unter der riesigen Eiche. Als ich endlich bei dem Baum ankomme, der auf dem kleinen Hügel mitten auf der Wiese steht, springt Anne im hohen Bogen ab und wirft sich mir in die Arme.

„Da bist du ja endlich, was hast du denn die ganze Zeit gemacht?"

„Ich war in der Uni und hab danach noch daheim vorbeigeschaut, weißt du noch, der Ort, wo ich wohne." necke ich sie.

„Jaja, aber ich hab doch auf dich gewartet."

„Ich weiß, ich hab deine Nachrichten gelesen. Was war denn so wichtig, dass du mit mir persönlich darüber reden wolltest?"

„Neeeein, so wichtig ist es doch gar nicht, aber ich rede halt immer lieber mit dir, als zu schreiben, das ist doch dumm, wenn wir uns eh jeden Tag sehen."

„Jaja, weiß ich doch, jetzt schieß los."

Und dann erzählt sie mir von der Vorlesung mit Mary, dass sie Angst hat, dass sie eigentlich was von mir wollte, und deswegen jetzt nicht mit ihr befreundet sein möchte. Ich höre ihr zu, sage ihr erstmal, dass ich das nicht glaube, sie unterbricht mich und sagt, dass ich doch keine Ahnung habe. Ich bringe sie lachend zum Schweigen, sage ihr, so soll weiter schaukeln und dass ich ihr dabei von meiner Vorlesung mit Mary heute berichten werde, und dass sie es dann verstehen wird. Sie schaut skeptisch, aber ist auch neugierig, also setzt sie sich brav auf die Schaukel. Ich schubse sie an, als wäre sie noch das kleine Mädchen, dass ich vor vielen Jahren kennen gelernt habe, und erzähle ihr von Tom.

Als ich berichte, wie sie ihm einfach gefolgt ist, ohne mich auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, ist sie fast empört für mich. Aber ich tue es lachend ab, ich habe ja gesehen, wie sie ihn anschaut. Jemand, der so hoffnungslos verliebt ist, kann nichts für seine Gleichgültigkeit anderen gegenüber.

Wir bleiben noch lange an dem Baum, schaukeln zu zweit, reden und lachen. Anne möchte jetzt natürlich, dass wir uns mit beiden anfreunden, und sie verkuppeln. Ich wette, sie plant innerlich schon eine Doppelhochzeit für uns vier, ohne ihn auch nur gesehen zu haben. Aber so ist sie nun Mal, meine Anne, ich kenne niemanden, der so viel denkt und phantasiert wie sie. Und genau das liebe ich an ihr.

Ich will mir gar nicht vorstellen, wie mein Leben ohne sie aussehen würde. Es wäre schrecklich langweilig. Ich vermisse unsere Gespräche schon, wenn sie ihre Großeltern in den Alpen besucht. Das sind die einzigen Zeiten überhaupt, in denen wir uns mal eine Woche lang nicht sehen.

Annes Eltern haben schon sehr früh damit angefangen, mich sogar mit in den Urlaub zu nehmen. Sie sagten, es sei angenehmer für alle, wenn sie einen gleichaltrigen Spielkameraden dabei hätte, so waren wir nicht mal in den Sommerferien getrennt. Meine Eltern waren froh, mich los zu sein. Damals waren sie noch nicht geschieden, sondern machten sich gegenseitig das Leben zur Hölle, und mir mit dazu, wenn es nicht mehr reichte, sich gegenseitig anzukeifen.

Ich verstehe nicht, wie sie überhaupt jemals heiraten konnten. Ich war ein Versehen, und anscheinend hatte mein Vater damals noch genug Ehrgefühl, um das als Grund zu nehmen, meine Mutter zu heiraten. Vermutlich hat er sich nach diesem Fehler nie wieder erlaubt, nach seinem Ehrgefühl zu handeln.

Inzwischen wohne ich mit ihm alleine, meine Mutter hat sich dann, als ich 12 war, in jemand anderen verliebt. Sie leben irgendwo im Norden, weit weg, und ich bin froh darum, ein Grund mehr, sie nicht zu besuchen.

Als meine Eltern sich kennen lernten, war meine Mutter eine hübsche, energiegeladene Frau, voller Lust auf das Leben, und mein Vater ein intelligenter, verschrobener Dozent. So erzählte er es zumindest, einmal, als meine Mutter mal wieder schreiend das Haus verlassen hatte. Ich wagte es, ihn zu fragen, warum sie überhaupt zusammen seien, und er war in melancholischer Stimmung und erzählte es mir. Die Frau, die er beschrieb, schien nichts mit meiner Mutter gemein zu haben. Solange ich mich zurückerinnern kann, war sie nur eine verbitterte, schlecht gelaunte Frau, die nicht einmal verstecken konnte, dass sie ihrem Kind die Schuld an ihrem Unglück gab. Ohne mich hätte sie eine erfolgreiche Medizinerin werden können, stattdessen saß sie nun ohne abgeschlossene Ausbildung in einem Haus am Rand ihrer Heimatstadt fest, mit einem Mann, den sie nicht ausstehen konnte, und einem Kind, das sie nie gewollt hatte.

Als sie uns endlich verließ, spürten wir beide nur Erleichterung. Seitdem ist so etwas wie Friede bei uns eingekehrt. Ich verbringe die meiste Zeit bei Anne, und meinem Vater ist das nur Recht, er ist nicht gerade der fürsorgliche Typ Vater. Oder irgendein Typ Vater. In den ganz dunklen Momenten meiner Kindheit habe ich mich gefragt, warum sie mich überhaupt behalten haben. Nicht, dass ich damals gewusst hätte, was eine Abtreibung ist, aber ich habe mich einfach mit kindlicher Einfalt gefragt, ob wir nicht alle glücklicher wären, wenn ich nicht existieren würde. 

Aber das ist schon sehr lange her. Das war, bevor sich ein kleines, dunkelhaariges Mädchen hinter mit versteckte, als ein anderer Junge an ihren langen Zöpfen ziehen wollte. Ich verteidigte sie an diesem Tag, rein aus Reflex, weil ich etwas gegen den Jungen hatte, der sie ärgern wollte. Sie war mir sehr dankbar und ab diesem Tag waren wir Freunde. Sie teilte ihr Pausenbrot mit mir, als sie mitbekam, dass ich kein eigenes dabei hatte und fing an, mich nach der Schule mit zu sich zu nehmen, und bald waren wir unzertrennlich. Ich lernte bei ihr, wie es ist, mit liebevollen Eltern aufzuwachsen, und sie behandelten mich bald wie ihren eigenen Sohn. Besser hätte es mich nicht treffen können, und ich bin noch heut dankbar für den Zufall, der mich zum Beschützer dieses kleinen Mädchens gemacht hat.

Die Erinnerung bringt mich dazu, sie an mich zu ziehen, ganz fest an meine Brust zu drücken und den Duft ihres Haares einzuatmen. Meine Anne, die beste Freundin auf der ganzen Welt. Sie erwidert die enge Umarmung, schaut zu mir hoch und gibt mir einen sanften Kuss.

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt