Neujahrsanfang

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Mary

Hups.

Ich schwanke leicht gegen die Sofalehne, bevor ich mich unelegant darauf niederlasse. Ich bin mal wieder betrunken, ganz schön betrunken sogar. Aber das bedeutet nicht, dass ich mich deswegen normal auf das Sofa setzte, wo kommen wir denn da hin.

Tatsächlich tendiere ich betrunken noch stärker dazu, mich auf die kreativsten Weisen irgendwo nieder zu lassen, nur nicht so, wie es gedacht ist.

Mir ist wirklich etwas schwindelig, also lege ich mich jetzt auf die Lehne des Sofas. Ich muss mich dafür ein bisschen um die Ecke biegen, ich bin zu lang, aber das macht ja nichts.

So ist es besser. Hier könnte ich schlafen.

Oh nein, Augen zu machen ist eine schlechte Idee, da dreht sich alles nur noch mehr.

Wie konnte ich so betrunken werden, es ist noch lange nicht 12. Das ist kein gutes Zeichen. Dabei hat der Abend so gut angefangen. Anne und ich haben uns riesig gefreut, uns nach fast zwei Wochen endlich wieder zu sehen. Ich habe sie wirklich unheimlich vermisst. Sie und die Ablenkung, die sie darstellt. Alleine daheim holten mich die Ereignisse dann doch schneller ein, als ich gehofft hatte.

Und spätestens als er meine „Frohe Weihnachten"-Nachricht ignorierte, die ich irgendwann spät nachts und angetrunken von dem vielen Wein und den Verdauungschnäpsen wider meines besseren Wissens abschickte, wusste ich, dass es diesmal wirklich vorbei war. Als hätte ich das nicht schon vorher gewusst. Dumme, dumme Mary. Aber ich darf nicht drüber nachdenken, sonst werde ich vollkommen zum Häufchen Elend. Und das will ich um jeden Preis vermeiden.

Deswegen bin ich auch Lasse aus dem Weg gegangen. Nach zwei Runden Kingscup und etlichen Shots hatte ich das Gefühl, er würde versuchen, mit mir alleine zu reden, als er mich mit der Versprechung auf Brause in die Küche lockte, also schleppte ich Anne vorsichtshalber mit. Und weil ich so gerne ihre Hand nehme.

Das ist die nächste Sache, über die ich nicht nachdenken darf. Wie glücklich Anne mich macht. Ihre Anwesenheit, ihre Nähe, ihre Berührungen. Es ist anders als bei Tom, aber irgendwie auch nicht, ich verstehe es nicht ganz, ich bin total verwirrt, nicht nur durch den Alkohol. Kann es wirklich sein, dass ich Gefühle für sie habe? Alle Anzeichen deuten darauf hin, aber ich bin doch in Tom verliebt.

Aber irgendwie fürchte ich, dass es mir möglich ist, in zwei Menschen gleichzeitig verliebt zu sein. Unglücklich noch dazu, weil beide vergeben sind und meine Gefühle nicht erwidern. Es ist doch zum Heulen mit mir.

Das mein neuer Schwarm ein Mädchen ist, verwundert mich weniger. Ich habe schon immer geahnt, dass ich Frauen mag, oft genug habe ich auf der Straße hübschen Mädchen hinterher geblickt und für mich war schon immer klar, dass Frauen das schönere Geschlecht sind. Ich dachte früher, das ist offensichtlich, bis ich irgendwann feststellte, das einige Frauen das anders sehen. Anscheinend stehen nicht alle auf wunderschöne schlanke Beine, flache Bäuche und hübsche Dekolletés. Ganz komische Sache.

Ich habe es auf jeden Fall immer vermutet, war aber zu fokussiert auf Tom, um es jemals eingehender zu erforschen.

Und natürlich muss ich es jetzt heraus finden, indem ich mich die einzige, wunderschöne, großartige Freundin verliebe, die ich in meiner neuen Heimat gefunden habe. Ganz ganz großartig. „Oh gut, du bist sarkastisch, also noch keine Alkoholvergiftung." würde Nelli jetzt sagen. Mit ihr habe ich viel telefoniert in den letzten Tagen, und sie ist auch die einzige, der ich das Drama mit Tom in seinem ganzen, überdimensionalen Ausmaß geschildert habe. Sie war lieb, und hat so gut es ging versucht mich zu trösten, aber nach ein paar Tagen hat sie dann gesagt, dass es reicht, und dass ich froh sein soll, dass ich jetzt endlich ungestört über ihn hinweg kommen kann.

Und sie hat ja recht. Ich muss den Kontakt zu ihm abbrechen, unbedingt, es kann so nicht weiter laufen. Ich muss es einfach tun. Nur das ich genau das nicht tun muss oder? Weil er es schon getan hat. Und ich komme absolut nicht damit klar.

Meine Gedanken rasen wie wild im Kreis, immer wieder dieselben, wie auf einem Karussell.

Wo sind eigentlich alle? Wieso bin ich hier alleine?

Wieso bin ich an Silvester alleine, in derselben Stadt wie Tom, aber ohne ihn, ohne den Hauch einer Chance, dass er mir auch nur eine Nachricht schreibt, weil er mich so sehr hasst?

Und er hasst mich zurecht, ich bin eine furchtbare Person. Ich hätte nicht mitmachen dürfen, ich wusste ja von Maria. Zwar nicht, dass sie inzwischen zusammen sind, aber genug, dass ich mich nicht mit ihm hätte einlassen dürfen. Mal wieder. Und jetzt hat er mir für alle Zeiten abgeschworen.

„Mary, wo bleibst du denn, es ist gleich 12!!!" Ich zucke beim klang von Annes Stimme zusammen und wische mir hastig über die Augen, da kommt sie auch schon ins Zimmer.

„Oh Mary, bist du so fertig? Ich", ein Hickser unterbricht sie und sie muss kichern, „ich auch, glaub mir, aber kurz müssen wir noch durchhalten, komm ich helf dir auf." Schon ist sie an meiner Seite und zieht mich hoch. Ich stelle mich auf meine leicht schwankenden Beine, lege den Arm um sie und wir gehen nach draußen. „Ist es wirklich schon so spät?" frage ich verwirrt, ich dachte, es sei noch früher.

„Ja, ich hab dich grade noch gefunden, gleich ist es so weit." Tatsächlich stehen alle draußen, die Raketen in Flaschen schon startfertig aufgestellt, und als wir bei Lasse ankommen, der uns anlächelt, fängt jemand an, von 10 an rückwärts zu zählen.

Ich schlinge die Arme um meinen Körper, ich hätte eine Jacke anziehen sollen, aber dafür ist es jetzt zu spät. Anne lehnt nun an Lasse, tatsächlich scheint sie ebenso betrunken wie ich zu sein.

„Zwei, eins, Frohes Neues!" schreien da um unser herum viele Stimmen.

„Frohes Neues meine Anne." höre ich Lasse leise sagen, und dann küsst er sie. Ich glaube, ich habe noch nie gesehen, wie die zwei sich küssen, auch wenn mir das erst jetzt auffällt. Und ich glaube, ich bin ganz froh darüber, denn bei dem Anblick zieht sich mein Magen unangenehm zusammen und ich spüre tief in mir einen dumpfen Schmerz.

Ich bin definitiv in Anne verliebt, plötzlich ist es so klar. Es tut so weh, sie so mit Lasse zu sehen. Und wieso ist Tom nicht hier? Keiner liebt mich, ich werde einfach für immer allein bleiben.

Ich merke selber kaum, wie meine Beine sich selbstständig machen und versuchen, mich von hier wegzubringen, erst als ich stolpere und unsanft auf dem Boden lande, realisiere ich, dass ich mich von Anne und Lasse entfernt habe.

„Mary, was ist los, alles okay bei dir?"

„Wo willst du denn hin, ist dir schlecht?"

Weit bin ich wohl nicht gekommen, denn sofort sind beide bei mir, knien neben mir auf dem Boden, und Anne wischt mir mit besorgtem Gesicht Tränen von der Wange, die ich nicht einmal bemerkt habe. „Hast du dir wehgetan?"

„Nein, nein, alles okay, ich bin nur hingefallen, und sehr betrunken."

„Warum weinst du denn? Was ist los?"

Ich sehe, wie sie Lasse einen hilfesuchenden Blick zuwirft. Oh man, das ertrage ich grad einfach nicht. Sie haben mich als Pärchen noch nie genervt, weil sie wirklich das Gegenteil von aufdringlich sind, aber dennoch gehören sie zusammen, und das ist gerade einfach zu viel für mich. Aber ich muss es irgendwie schaffen, dass sie mich in Ruhe lassen, also versuche ich ein Lächeln aufzusetzen, während ich mich aufrapple, lege den Arm um beide gleichzeitig und wünsche ihnen ein frohes Neues, dann schwanke ich hastig Richtung Haus.

„Mary, wo willst du denn hin?" Anne ist sofort wieder neben mir.

„Couch, ich muss mich hinlegen."

„Komm, ich bring dich in mein Bett, da kannst du deinen Rausch ausschlafen." Plötzlich liege ich in Lasses Armen, und er trägt mich scheinbar mühelos ins Haus. So getragen zu werden ist gar nicht so schön, wie ich gedacht hätte. Ich fühle mich eigentlich einfach nur hilflos. Aber ich bin zu fertig, um zu protestieren, und Bett klingt doch eigentlich perfekt, da kann ich mich in Ruhe ausheulen, selbst bemitleiden, einschlafen und hoffentlich nie wieder aufwachen.

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt