Gespräch mit Mary

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Lasse

Mary ist unfassbar leicht, vor allem für ihre Größe. Ich bin auch gut angetrunken, habe aber trotzdem keinerlei Schwierigkeiten damit, sie die Treppe hinauf und in mein Schlafzimmer zu tragen. Ich mache mir wirklich Vorwürfe, dass ich sie zu so vielen Shots genötigt habe. Ich wollte ihr doch Silvester nicht verderben. Und ich hätte mir denken müssen, dass sie nicht mehr so viel verträgt. Wie denn auch, wo sie es irgendwie geschafft hat, über Weihnachten noch mehr abzunehmen. Sie besteht wirklich nur noch aus Haut und Knochen, das merke ich jetzt viel zu deutlich, als sie in meinen Armen liegt. Ihre weiten Pullis, Kleider und überdimensionalen Schals haben es in der letzten Zeit versteckt, aber ich kann ihre Wirbelsäule spüren, das kann nicht mehr gesund sein, ich mache mir wirklich Sorgen um sie.

„Hast du schon gekotzt?" frage ich besorgt, nachdem ich sanft abgelegt habe. Ich werde sie doch nicht bis zur Alkoholvergiftung abgefüllt haben?

Wenn man Annes Eltern glaubt, fängt die ja an, sobald sich jemand übergibt. In dem Fall hätten aber normale Jugendliche mindestens ein bis zwei Alkoholvergiftungen im Jahr.

„Nein, alles gut, ich muss mich einfach nur ausruhen." Marys Stimme klingt schwach und heiser, und ich beeile mich, ihr meine immer gefüllte Wasserflasche vom Schreibtisch zu reichen. Ob ich zurück zu Anne gehen sollte? Sie macht sich bestimmt Sorgen um Mary, und ist ja selber dicht, ich sollte mich um sie kümmern. Ich wundere mich, dass sie nicht mit heraufgekommen ist. Ich hatte ihr zwar mit einem Blick bedeutet, unten bei den anderen zu bleiben, aber nicht damit gerechnet, dass sie darauf hören würde.

Es kommt mir wirklich fies vor, Mary jetzt auszuhorchen, andererseits will ich ihr helfen und wissen, was los ist. Mein Plan, sie abzufüllen, ist ja mehr als aufgegangen, also sollte ich das jetzt auch ausnutzen.

„Mary, du kannst mir erzählen was los ist, okay?" Ich habe bei Anne gelernt, dass man Mädchen am besten zum Reden kriegt, wenn man ihnen das Gefühl gibt, zu wissen, was sie beschäftigt, selbst wenn man keinen blassen Schimmer hat. Wenn sie erstmal erzählen, kommt man schon noch dahinter, worum es geht.

„Ach, es ist nur wegen Tom. Er ist jetzt mit Maria zusammen, und hasst mich, weil ich ein furchtbarer Mensch bin, und er wird nie wieder mit mir reden..." Sie schluchzt auf und vergräbt ihr Gesicht in meinem Kissen.

Shit. Also doch Tom. Ich hatte irgendwie gehofft, sie sei so fertig gewesen, weil ich Anne vor ihren Augen geküsst hatte. Ja, ich bin ein schlechter Mensch, aber ich wollte wissen, wie sie reagiert. Um für meine Anne heraus zu finden, ob ihre Gefühle von Mary erwidert werden.

Ich meine, ich hätte ihr natürlich so oder so einen Neujahrskuss gegeben, aber keinen so intensiven.

Etwas ratlos streichle ich Mary über den Rücken. „Du bist kein schlechter Mensch, wie kommst du denn auf den Quatsch. Du bist ein ganz toller Mensch Mary." Wow, wie lahm klang das denn bitte. Passend dazu fängt Mary nur noch heftiger an zu weinen, ihr ganzer zarter Körper bebt unter meiner Hand.

„Ich bin ein ganz furchtbarer Mensch." höre ich sie gedämpft schniefen. „Ich verliebe mich immer in die falschen. In vergebene Personen, und dann wünsche ich mir nichts mehr, als zurück geliebt zu werden, obwohl dadurch eine wundervolle Beziehung zerstört werden würde." Vergebene Personen? Wundervolle Beziehung? Täusche ich mich, oder redet sie grad nicht mehr nur von Tom? Okay, sie ist stockbesoffen, und wird morgen nichts mehr wissen, ich setzte jetzt alles auf eine Karte.

„Beziehungen sind nicht immer so perfekt, wie sie aussehen, weißt du? Ich bin mit meiner besten Freundin zusammen, aber glaube nicht, dass wir wirklich ineinander verliebt sind. Ich denke", doch da stocke ich, denn Anne steht im Türrahmen. Fuck, wie viel hat sie gehört? So sollte sie das natürlich nicht erfahren. Mit einem Satz stehe ich neben ihr und will schon anfangen, mich zu erklären, auch wenn ich noch nicht genau weiß, wie, da taumelt sie an mir vorbei und lässt sich auf mein Bett neben Mary fallen.

„Lasse, mir ist so schlecht, kannst du mir einen Eimer holen?" murmelt sie undeutlich, mit schon geschlossenen Augen. Mary hat sich kein Stück bewegt, ist sie etwa schon eingeschlafen? Vor einer Minute hat sie doch noch mit mir geredet. Und bedeutet das, Anne hat gar nicht mitbekommen, wovon ich gerade geredet habe?

„Bitte Lasse!" Oh stimmt, der Eimer. Haben wir sowas? Ich suche erst in der Besenkammer, aber da ist keiner. Ich fluche leise, betrunken mache ich das irgendwie immer.

In der Küche unter der Spüle habe ich mehr Glück, ich erkläre den anderen, dass ich mich weiter um meine zwei Schnapsleichen kümmern muss, und kehre dann zu eben diesen zurück. Dabei frage ich mich die ganze Zeit, ob es wirklich sein kann, dass Anne nichts mitgehört hat, und wie viel Mary wohl verstanden hat, bevor sie eingeschlafen ist.

Als ich das Zimmer wieder betrete, scheint auch Anne schon wie eine Tote zu schlafen, aber ich könnte schwören, dass Marys Augen offen sind, als ich reinkomme, auch wenn sie sie ganz schnell schließt. Sie hat Anne Platz gemacht und jetzt liegen sie friedlich nebeneinander auf meinem schmalen Bett, sogar zugedeckt mit meiner Decke. Hat Mary nur so getan, als wäre sie eingeschlafen?

Ich lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl sinken und betrachte die beiden. Ich habe sie so lieb, irgendwie muss es mir doch möglich sein, ihnen den Weg zum gemeinsamen Glück zu ebnen. Ich hoffe bloß, der Alkohol löscht ihre Gedächtnisse und lässt alles verschwinden, was sie vorhin mitgehört haben. Es war dumm, einfach so damit herauszuplatzen. Ich muss doch zuerst mit Anne reden, so viel ist mir jetzt klar. Ich fühle mich so schon schlecht, als hätte ich sie hintergangen.

Wieso ist das alles so kompliziert?

Und dann kamst duWo Geschichten leben. Entdecke jetzt