Ich starrte Mathew einen Moment schweigend von meinem Schreibtisch an, bevor ich mich erhob. War er schon einmal hier gewesen? Seinem herumschweifenden Blick nach nicht. »Ihr habt nichts verändert. Es ist alles so, wie es Somalia zurückgelassen hat« stellte er fest und ich zog überrascht meine Augenbrauen hoch. Über Mama zu sprechen kam einem Friedensangebot gleich und ich erhob mich. Ich knickste direkt vor ihm und drückte einen Kuss auf seine Hand. Mit Sicherheit hat Delune bereits alles ausgeplaudert. »Was geschieht mit Mama, wenn wir sie finden?« fragte und bedeutete Mathew, mir in den anliegenden Salon zu folgen. Hier war der Ort für Staatsangelegenheiten. Etwas Steifes haftete diesem Raum an, obwohl ich ihn mir so gemütlich wie möglich eingerichtet hatte. Also eigentlich nur den Schreibtisch, aber das reichte mir, um mich wohlzufühlen.
Maida öffnete uns die Tür und ich lächelte sie dankbar an. »Begleitet uns bitte, Gräfin« forderte Mathew. Maida fuhr zusammen, worauf ich kurz ihre Hand drückte. Mathew zog die Augenbrauen hoch.
»Gräfin Yorker Ihr seid als Hofdame niederen Adels Baroness Delune als Obersthofmeisterin untergestellt - ich dachte, Ihr wisst das«
»Ja, Majestät«
»Das hatte ich auch angenommen. Warum muss ich also bereits am ersten Tag den Bericht erhalten, dass Ihr sowohl die Autorität von Baroness Delune, als auch die Standesschranken zur Ihrer Majestät missachtet«
»Bitte verzeiht, Majestät«
Ich trat entschlossen neben Maida, die schützend die Schultern hochgezogen hatte und griff nach ihrer Hand. Sie zog sie beschämt zurück. Wütend verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Gräfin Yorker hat nichts dergleichen getan, Majestät« - »Sie hat Delune also nicht des Raumes verwiesen und Euch mit dem Vornamen angesprochen?« Ich musste mit Paget sprechen, dass Delune gehen musste. Es kam nicht infrage, dass diese Person, die Mathew jedes Detail meines Tages berichtete, in meinem inneren Kreis blieb.
»Maida hat so reagiert, wie ich es in dieser Situation notwendig war und sie hat meine volle Unterstützung dabei«
»Ihr dürft gehen, Gräfin«
Ich wollte mit Mathew nicht streiten. Er hat mir bereits bewiesen, dass ich diese Auseinandersetzungen ohnehin nicht gewinnen kann. »Bitte nehmt mir sie nicht weg« presste ich hervor und musste sofort wieder gegen Tränen kämpfen. Maida und la Rovere waren wortwörtlich da, wenn ich aufwachte und wenn ich schlafen ging. Diese Begleitung konnte ich nicht von la Rovere alleine verlangen. »Die beiden tun alles für mich« setzte ich hinter, aber meine Worte lösten bei Mathew keine Regung aus. Panik erfasste mich. Wenn Delune ihn überzeugen würde, beide zu entlassen? Ich versuchte das Zittern, dass mich erfasste zu verstecken, aber vergeblich. Mathew streckte seine Hand nach mir aus, aber ich wich aus Angst vor dem Gewicht zurück.
»Schwört, dass Ihr mir die beiden nicht wegnehmt«
»Das werde ich nicht«
Erleichtert ließ ich mich auf eine der Sitzgruppen fallen und tupfte mir erneut die Tränen von den Wangen. Mathew nahm ebenfalls Platz und musterte mich besorgt. »Ihr fühlt Euch heimatlos?« fragte Mathew. Ich habe ihn noch nie so ... verunsichert, so menschlich gehört. Seine Augen huschten wieder unruhig hin und her. Dieses Gespräch machte ihm genauso Angst wie mir.
»Nicht immer, Majestät«
»War es anders, als Ihr bei Solei wart?«
»Ein bisschen. Bei Solei fühlte ich mich nicht so verloren«
In ihrem Landhaus wurden wir immer von denselben Menschen umgeben und ich kannte die Gärten und den herumliegenden Wald. Im Schloss war mir beinahe nichts vertraut, außer ein paar Räumlichkeiten für Staatsakte. Mathew nickte langsam und rollte die Enden seiner Hemdärmel zwischen seinen Fingern auf und ab.
»Wenn Ihr das wirklich möchtet, könnt Ihr auch nach England auf Kur fahren«
»Warum England?«
»Ihr sagtet, Ihr wollt nachhause«
»Zu Sean und Lord Hawkins? Bei Gott nein. In Schottland habe ich mich das erste Mal zuhause gefühlt. Aber Dorian hat das halbe Areal dem Erdboden gleichgemacht. Nein,« ich schüttelte langsam den Kopf und lächelte Mathew an. »Ich will von hier nicht fort. Aber ich möchte nicht ständig hinter Mauern zu meinem Schutz eingesperrt sein. Lasst mich bitte dieses Land kennen lernen«
Mathew sah mich lange an, ohne etwas zu sagen. Langsam hoben sich seine Mundwinkel. Er nickte. Es fühlte sich an wie ein sehr filigraner Frieden. Er erhob sich und ich folgte seinem Beispiel. Einen Moment standen wir uns erneut schweigend gegenüber, bevor ich ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Es war seltsam ihm nach gestern wieder so nahe zu kommen. »Paget und ich fürchten seit jeher um Eure Sicherheit, Lavinia. Es tut uns leid, wenn Euch unsere Angst eingesperrt hat«***
»Danke« sagte ich leise und drückte Nemours einen Kuss auf die Wange. Delune hinter mir schnappte erschrocken nach Luft und Nemours senkte verlegen den Blick. Aber mein Hochgefühl konnte so schnell nichts trüben. Jetzt kannte ich wirklich das ganze Schloss. Von den Hofküchen bis zum Aufstieg zu den Dachflächen, die zu begehen waren. Das waren die einzigen Flächen, die wir auslassen mussten, da es seit Stunden beständig regnete. Ich streifte meine Handschuhe ab und ließ sie auf meinen Schreibtisch zurück, bevor ich das Fenster öffnete. Der Geruch von Erde und Friede schlug mir entgegen und ich klatschte erfreut mit den Händen zusammen. »Gefällt Euch der Palast?« fragte Nemours und ich drehte mich strahlend um. Er hatte sich wieder entspannt und lehnte an meinem Schreibtisch. Manchmal bekam ich das Gefühl, dass ich mehr Zeit mit Nemours verbrachte, als mit irgendjemanden sonst. Ich nickte bestätigend.
Es gab unglaublich prunkvolle und alte Salons, die ich noch nie gesehen hatte. Eingerichtet im orientalischen, europäischen oder einfach irgendeinem historischen Stil zeigten diese Räume, wie alt und bedeutend dieses Schloss eigentlich ist. Ich fühlte mich klein im Vergleich zu der Jahrhunderte alten Geschichte, die hier schon geschrieben worden ist. Jetzt bin ich ein Teil davon.
»Bleibt Ihr zum Diner?« fragte ich Nemours und ging zu ihm zurück. Ich ließ mich auf meinem Schreibtischstuhl fallen und sah zu ihm auf. Er lächelte bestätigend und ich sah zu Delune. »Aber Ihr könnt ebenfalls bei uns zu Abend essen, wenn Ihr wollt« schlug Nemours vor. Das machte ihn erneut verlegen. Es war eigenartig wie entschieden er mir gegenüber in Staatsangelegenheiten auftrat und wie verlegen es ihn machte, wenn wir über etwas Höfisches oder Privates sprachen.
»Gerne. Darf ich Mathew fragen, ob er ebenfalls kommen möchte?« fragte ich, worauf sich Nemours Wangen noch dünkler färbten und er zaghaft nickte. Lächelnd nickte ich ihm zu und entsperrte anschließend die erste Schublade, um die Dokumente herauszuholen, die noch abgearbeitete werden mussten.
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Erzherzogin Lavinia - das Mädchen unter vielen
Historical Fiction»Lavinia. Ich ließ genauestens überwachen, ob du den Strapazen einer Geburt gewachsen sein würdest. Dieser Entschluss war lange diskutiert worden« versuchte Paget sich heraus zureden. Mein Mann hatte also von Beginn an nicht geglaubt, dass ich seine...