Ich beobachtete die Gischt, wie sie sich ihren Weg in die Küste hinein bannte. Als wir Kinder waren, lernte uns Lord Hawkins das Schwimmen. Er nahm mich mehr aus Notwendigkeit, als aus Güte mit. Die Gefahr war zu groß, dass ich in einen der Seen fallen könnte und ertrinke. In dem Monat, dass ich bisher hier verbracht hatte, kühlte es beinahe täglich weiter ab. Weihnachten stand schon bald in der Tür. Ich rieb meine behandschuhten Hände aneinander und nickte laRovere zu. Wir konnten zurückgehen.
»Seine Majestät der Kaiser und Euer Mann werden zum Dinner erwartet, soll ich Euch ausrichten« durchbrach sie das Schweigen. Vor uns erstreckte sich der Kiesweg, der uns zurück zu meinem kleinen Anwesen direkt neben der Heilanstalt brachte. Ich war froh, vor der breiten Masse an Damen abgeschirmt zu sein, die sich hier ihre Freizeit vertrieben. Der nächste Gebäudekomplex gehörte den verwundeten Soldanten, die sich hier erholten. Seit einigen Tagen hatte Marchand hier Quartier bezogen. Soleis Freund wurde auch zu meinem Freund. Wahrscheinlich mehr aus Mitleid als aus Zuneigung, aber damit musste ich mich begnügen.
»Haben die Männer gesagt, was sie von mir möchten?« fragte ich und laRovere schüttelte den Kopf. Natürlich hatten sie das nicht! Verärgert stapfte ich weiter den Hügel hinauf durch die kalte Novemberluft und war froh, als sich das Backsteingebäude vor mir auftat. Links und rechts war es mit zwei Türmchen ausgestattet und glich der Miniaturform einer Burg. In den beiden Türmen war jeweils nur Platz für ein Zimmer und es führte lediglich eine schmale Holzstiege hinauf. Ich konnte es Grace trotzdem nicht ausreden, dass sie eines dieser Zimmer bezog. Zum Glück schlief sie trotzdem meistens bei mir.
Wir betraten das Haus durch den Hintergang. Die Dienstboten starrten mich einen Moment lang an, bevor sie sich verbeugten. Die Köchin nickte mir kurz zu, als sie zwischen ihren Töpfen hin und her sauste. Ich lächelte. Sie bereitete beinahe ebenso köstlichen Porridge zu, wie Soleis Köchin.
Gleich direkt neben der Stiege befand sich der Salon, indem ich das Frühstück einnahm. Der Speisesaal war mir zu groß und zu kalt dafür. Ich wollte nicht verantworten, dass ein Kammermädchen mitten in der Nacht aufgehetzt wurde, um rechtzeitig Feuer zu machen. Der kleinere, behaglichere Salon reichte vollkommen. »Ist die Zeitung schon gebracht worden?« fragte ich den Diener, der in der Tür stand. Ich nahm platz und stellte verdrossen fest, dass sie entweder unten vergessen wurde, dass so gut wie ausgeschlossen war, oder das sie nicht geliefert wurde. »Bitte verzeiht Majestät ...« nach diesem Worten hörte ich bereits weg. Das bedeutete, sie war nicht hier. Meine einzige Chance, an Informationen zu kommen, warum Mathew und Paget kamen. Meistens verbrachte Paget das Wochenende hier, das verwunderte mich nicht weiter, aber heute war Mittwoch. Noch zusätzlich hatte ich seit dem Wochenende keine Zeitungen erhalten. Das bedeutete, die beiden wollten etwas von mir verheimlichen und es ärgerte mich unglaublich, dass es klappte.
»Princesse Esposito« ich erhob mich und drückte meiner Italienischlehrerin einen Kuss auf die Wange. Diese vertrauliche Geste machte sie sie immer noch verlegen. Seit dem Italienischen Empfang schien ein Leben vergangen zu sein, obwohl es der Kalender nur mit einem Jahr bemaß. Sie begann fröhlich in Italienisch zu plappern, aber mehr als eine Bejahung oder Verneinung brachte ich nicht zustande. Ich war zu zerstreut, was die beiden von mir wollen könnten. »Majestät?« ich bemerkte Gräfin la Rovere erst, als sie ihre Hand auf meine Schulter legte. Ich fuhr zurück und presste meine Lippen zusammen, als ich meine Augen brennen spürte. Es wird schon nichts Schlimmes passiert sein. Schlimmer kann der Start ins kommende Jahr nicht werden, als das vergangene Jahr in jedem seiner Details.
»Bitte entschuldigt« ich fuhr mir über die Stirn. Espositos Mundwinkel wurden nur mehr durch reine Willenskraft in Position gehalten und ich zuckte zusammen, als ich Grace in der Türe stehen sah. Ich brauchte ein ruhiges Fleckchen, um mich zu sammeln.
***
Ich spürte, wie mir laRovere über das Haar strich und schlug verschlafen die Augen auf. Verlegen starrte ich auf das Buch, dass in meinem Schoss zugeklappt lag. »Es wird Zeit Euch anzukleiden« murmelte sie und fuhr fort, meine Stirn zu berühren. Ich schwieg und genoss einen Moment ihre Berührungen. Das viel mir in letzter Zeit wieder verdächtig schwer.
Seufzend rappelte ich mich auf und nutzte den schmalen Geheimgang, der meine Gemächer direkt mit der improvisierten Bibliothek verband. Es war nicht viel, aber alles das ich brauchte. Eine abgeschirmte Nische, nah genug am Fenster und gleichzeitig am Kamin. Maida hatte bereits alle bereitgelegt und so steckte ich überraschend schnell in meiner dunkelblauen Abendgarderobe. »Baroness Delune hat dem Kaiser Bericht erstattet, dass Ihr nicht sprechen und essen wollt« platzte es aus Maida heraus, während laRovere den Schmuck aus meinem Ankleidezimmer holte. Ich zog die Augenbrauen nach oben. Warum berichtete sie mir erst jetzt davon?
»Sie kennt mich nicht lange genug um das zu beurteilen« redete ich mich heraus und wandte mich kopfschüttelnd ab. Meinetwegen, ich hatte heute das Mittagsessen ausfallen lassen. Aber lediglich, weil ich zu müde war. Gefrühstückt hatte ich ein bisschen etwas, bevor ich mich auf den Weg an den Strand gemacht hatte.
Mich verfolgte der Gedanke in den Salon, woraus ich bereits die Stimmen von Pagets und Mathew vernehmen konnte. Jedes Mal, wenn Mathew hier kurz vorbei sah, kam er mir älter vor. Seine Haut war seltsam fahl und er schien sich eine Erkältung eingefangen zu haben, die er nicht loswurde.
»Ich freue mich, das ihr hier seid« log ich und drückte zuerst Mathew und anschließend Paget einen Kuss auf die Wange. Mathew musterte mich einmal kritisch, worauf ich die Schultern strafte. Ich musste mich nicht rechtfertigen, warum ich sie nicht hierhaben wollte. Gestresst nahm ich als Erste platz und ließ meinen Blick zwischen den Männern hin und her fliegen. »Ihr macht mir Angst« gestand ich, worauf sich die beiden kurz schuldbewusst ansahen. Paget setzte sich zu mir und öffnete seine Arme. »Komm her« flüsterte er und ich flüchtete mich dankbar in die Umarmung. Nur ein Moment. Ein Moment Sicherheit, bevor sie meine Welt erneut ins Wanken bringen werden.
»Wir haben Malheur zurückerobert« berichtete Mathew. Seine Stimme klang bei Weitem nicht so euphorisch, wie sie sein sollte. Ich hob meinen Blick, um an Paget irgendeine Regung abzulesen. Alles, dass ich da sah, konnte ich weder beschreiben noch benennen. Etwas hatte sich in ihm verändert, aber ich konnte es nicht greifen. »Aber?« hakte ich nach und drehte meinen Kopf in Mathews Richtung. Mathew blies frustriert Luft aus und setzte sich ebenfalls.
»Kenneth ist fort. Paget muss ihm nach Marokko nachreisen. Dafür brauchen wir aber Grace«
»Nein!« Ich drückte mich von Paget weg und schüttelte entschlossen den Kopf. Das ging nicht. Sie konnten mir nicht Grace wegnehmen. Sie war mein Mädchen. Sie war ... alles Glück, dass ich zur Zeit greifen konnte. »Bitte« setzte ich hinterher. »Nehmt mich mit« schlug ich aus einem Impuls heraus vor. Ich fuhr zusammen, als mich mein eigener Vorschlag traf. Aber alles war besser, als wenn sie mir Grace wegnahmen. Kenneth interessierte sich nicht für Grace! »Lavinia, sei nicht töricht ...« mahnte Mathew, worauf ich wütend die Arme verschränkte und mich erhob. Wenn ich Grace und mich in einem Zimmer einsperren werde, dann soll es so sein, aber sie wird mich nicht verlassen. »Lavinia, dass hier ist kein Ort für ein junges Mädchen« rief mir Mathew ins Gedächtnis. Er trat näher auf mich zu und bevor ich es mir anders überlegen konnte, schlug ich mit meinen Fäusten auf seine Brust ein. Er schickte Paget fort, gemeinsam mit Grace! Wer blieb mir dann noch. Mathew hielt meine Fäuste fest, ließ mich aber keinen Schritt zurückweichen. Ich schluchzte auf und lehnte meinen Kopf an seine Brust.
Ich hatte mich geirrt. Es gab noch eine Steigerung von schlimm in katastrophal. Ein Zittern ergriff meinen Körper und ich wusste nicht mehr, wo oben und unten war. Einzig und alleine Mathews Arme hielten mich fest. Fest genug, damit ich nicht hart am Boden aufschlug, als mich die Kraft meiner Beine verließ.----------
Wir sind hiermit fast am Ende des zweiten Teiles angekommen. Das kommt vielleicht ein bisschen überraschend für euch, es geht aber fließend weiter. Folgenden Plan habe ich entwickelt und ich hoffe, dass ich ihn durchziehen kann.
Am Sonntag (13.10) der Prolog dieses Teiles und am darauf folgenden Sonntag (20.10) der Start in das dritte Buch. Ich kann bereits so viel verraten, dass wir einen Zeitsprung zwischen zweiten und dem dritten Teil machen.
Ich freue mich darauf, einen weiteren Abschnitt von Lavinias Reise gemeinsam mit euch erleben zu dürfen.
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Erzherzogin Lavinia - das Mädchen unter vielen
Historical Fiction»Lavinia. Ich ließ genauestens überwachen, ob du den Strapazen einer Geburt gewachsen sein würdest. Dieser Entschluss war lange diskutiert worden« versuchte Paget sich heraus zureden. Mein Mann hatte also von Beginn an nicht geglaubt, dass ich seine...