Kapitel 10

881 62 2
                                    

Dorian

Ich griff über ihren Rücken zum zweiten Schulterblatt und half der Hofdamen beim Niederdrücken ihres ausgemergelten Körpers. Wie viel Kraft sie trotz der ganzen Auszehrungen noch hatte. Das Mädchen hieß glaube ich Yorker und war nur ein paar Jahre alter als Lavinia und ich. »Haltet Sie gut fest, Gräfin« mahnte ich und konzentrierte mich wieder auf meine eigene Schulter. Nur nicht zu fest drücken. Ihr herausstehendes Schulterblatt und die Blutrinnsale machten es mir generell schwer, sie zu berühren. Jedes Mal wenn sie sich aufbäumen wollte und ich dagegen hielt, hatte ich Angst, dass einer ihrer Knochen knackend nachgeben würde.Gräfin Yorker war mittlerweile in Tränen ausgebrochen, während sie die andere Hofdame noch ganz gut hielt. Sie tupfte Lavinia mit einem schnapsgetränkten Tuch den Rücken ab. »Gleich sind wir fertig« versprach sie Lavinia, als sie sich mit einem leisen Aufschrei aus unserem Griff winden wollte. Ob sie das alles noch bewusst wahrnahm? Wenn es einen Gott gab, dann würde er sie das vergessen lassen. Leider glaubte ich schon lange nicht mehr an Wesen im Himmel. Gräfin la Rovere nickte mir zu und ließ sich neben Lavinia in die Matratze sinken. Ihre zweite Hofdame folgte ihrem Beispiel und strich Lavinias Haare zur Seite. Wie abgestumpft alles an ihr war. Selbst ihre Haare hatten ihren Glanz verloren. Das ist deine Schuld! Ich schloss die Augen und versuchte mich von dem Gedanken abzulenken. Der Minister war zu mächtig geworden. Vater musste das endlich einsehen.

Ein heftiges Klopfen an der Tür ließ uns alle drei herumfahren. La Rovere stellte sich sofort schützend vor ihr Bett. Vorsichtig öffnete ich die Tür und blickte einer völlig aufgelösten Somalia entgegen. »Was hat er mit ihr gemacht?« rief sie und wollte sich an mir vorbeischieben. Ich packte sie an den Schultern und warf ihr einen prüfenden Blick zu. Hatte Vater wieder Hand an sie gelegt? Sah nicht so aus, denn ihre Augen leuchteten einen Moment lang sanft auf.
Sie zog sich einen Stuhl zu der Stelle, an der ich vorher gestanden war und starrte auf ihre Tochter hinunter. Gerne hätte ich sie getröstet, aber es gab keine Worte die das Beschönigten. Ihr Rücken war für immer gezeichnet und ich konnte nur hoffen, dass sie sich vom Schock erholte. Könnte ich bloß mehr für sie tun. »Legt Euch hin - sie wird Euch später brauchen« die beiden Hofdamen sahen mich einen Moment verstört an, bevor sie nickten. Ich warf Tante Somalia ein trauriges Lächeln zu, bevor ich sie mit ihrer Tochter alleine ließ.

»Majestät« ich verbeugte mich vor meinem Vater, der mich mit einem misstrauischen Blick bedachte. Wenn ich Tante Somalia nicht hätte, wäre ich wahrscheinlich auch zu so einem herzlosen Biest geworden.
»Der Minister meint, eine Schwangerschaft sei noch nicht nachzuweisen«
»Ich glaube der Minister hat seinen Standpunkt deutlich gemacht, Vater«
»Das war meine Anordnung«
»Nichts, seit Lavinia ihre Zelle betreten hat ist wirklich deine alleinige Anordnung«
Vaters Kopf wurde rot und ich ließ mich auf die Sitzgruppe fallen. Konnte er nicht sehen, was er da angerichtet hat? Lavinia war das sanfteste Geschöpf, dass mir jemals begegnet war. Als in der Kutsche gesagt hatte, ich hätte sie wie ein Stück Vieh behandelt - aber zum Glück sei sie daran gewöhnt, wollte ich das alles wieder gut machen. Wollte, dass sie hier eine schöne Zeit verbrachte. Das diese Trauer, die in ihren Augen stand verschwand. Aber anstelle habe ich zugelassen, dass Vater sie endgültig brach.

»Wie kannst du es wagen, meine Entscheidungen in Frage zu stellen«
»Wenn es deine Entscheidungen wären ...« ich brach ab und schüttelte den Kopf. »Du bist kein Mann, der sich an Unterlegenen vergeht« Es hatte keinen Sinn mit Vater darüber zu sprechen. Was immer der Minister ihm ins Ohr geflüstert hatte, es war Gesetz. Lavinia und ich sollten schleunigst von hier verschwinden.

5 Tage später
Ich musste mich zusammennehmen, um nicht jede freie Minute an ihrem Bett zu verbringen. Ich hatte das Gefühl, ihre Hofdamen würden meine Idee beführworten, obwohl ich sie ihnen noch gar nicht erzählt hatte. Aber die Art, wie mich la Rovere anlächelte, zeigte, dass sie mich mochte und Lavinia hielt große Stücke auf sie. Manchmal, rollte sie sich zusammen wie eine kleine Kugel und presste la Roveres und ihre verflochtenen Hände auf ihren Bauch. Papa wollte immer noch nicht nachgeben und einen Arzt zu ihr lassen, deshalb war auch nicht gewiss, ob sie wirklich ein Kind erwartete.
»Lavinia« ich strich ihr vorsichtig über den Kopf und entwirrte ihre Haare. Meistens wurde sie davon wach. Ich wollte einen Kuss auf ihre nackte Schulter drücken, konnte mich aber gerade noch so zurückhalten. Sie regte sich und drehte sich ächzend zu mir um. Ihr Rücken sah aus wie ein einziges Schlachtfeld. Wo keine aufgerissenen Hautstellen waren, färbten blaue Flecken ihre Haut in lila - blau Töne. Sie schenkte mir ein kleines Lächeln. Nur ein kleines Zucken ihrer Mundwinkel, aber mir wurde trotzdem warm.
»Hast du dir überlegt, was du mir erzählen möchtest?« fragte ich und hasste mich selbst dafür, unser Gespräch so zu Beginnen. Mit einer Abmachung, die den Minister fernhielt. Zum Glück glaubte er mir, dass ich Lavinia um den Finger wickeln konnte und sie mir deshalb Informationen gab. Das war der Beste Deal, den ich für sie aushandeln konnte. »Dass fühlt sich so falsch an« flüsterte sie und ihre Augen begannen verdächtig zu glänzen. Eilig zog ich sie näher zu mir.
Sie drückte sich weg.
Schüttelte den Kopf.
»Konntest du noch keinen Kontakt nachhause herstellen?« fragte sie und ich zog meine Augenbrauen nach oben. Würde ich sie damit quälen, bekäme ich Informationen von Bonheur? Sie seufzte leise auf und zog die dünne Decke bis zum Kinn. Ihr Rücken musste freibleiben, damit die Salben, die la Rovere hatte einwirkten. Deshalb war ihr immer kalt.
»Es wird noch einige Tage dauern« vertröstete ich sie. Ich habe einen ausführlichen Brief geschrieben - sollte er jemals dem Minister in die Hände fallen, würde er mich ausweisen. Deshalb musste ich alle nur erdenklichen Sicherheitsvorkehrungen treffen. »Als wir noch in Schottland waren, besuchten uns Prince Chevaliers und Grande Prince Nemours« stotterte sie und mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich hätte ihr so gerne erzählt, dass ich das alles in Schottland nicht wollte. Das es die Befehle des Ministers waren. Aber das wäre nur die halbe Wahrheit und sie war klug genug, dass zu erkennen. Deshalb schwieg ich. Ich wollte Paget Schaden und ich wollte sie zurück. Leider schaffte ich es nicht, mich für diese Gedanken zu schämen.
»Sie haben damals über Krieg mit deinem Vater mit mir gesprochen und Paget gedrängt, nachhause zu fahren« fuhr sie fort und ich schluckte. Nachhause, wie konnte sie diesen Ort zuhause nennen? Mathew machte sie zu einem Mittel seiner Politik und Paget betrog sie. Wo war da die Liebe und Zuneigung, die ein Zuhause ausmachte?
Als sich eine Träne von ihrer Wange löste, fing ich sie mit meinem Finger ab. Drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich möchte dich mit nach Italien nehmen« flüsterte ich und drückte einen weiteren Kuss auf ihren Wangenknochen. Dass sie sich nicht wehrte, interpretierte ich als ein gutes Zeichen. »Wir wären da sicher vom Minister und Vater. Wenn du möchtest, können wir deine Mama mitnehmen!« redete ich hastig weiter und ich suchte ihren Blick. Sie sah mich nicht an, sondern starrte an einen Punkt weit hinter mir.
»Du weißt, dass ich nicht kann«
»Warum nicht?«
Ihr Blick flog zu mir und ich stellte zufrieden fest, dass das Feuer in ihre Augen zurückgekehrt war. »Weil ich eine Familie habe« - »Wir können eigene Kinder haben« Die Kronprinzen waren erst einige Wochen alt, als Lavinia fluchtartig ihr Leben verlassen hatte. Das wäre das Einzige, dass sie für mich aufgeben müsste. Aber dafür könnte ich ihr die Welt zu Füßen legen. »Gib dir doch selbst endlich die Möglichkeit glücklich zu sein« Ihr Blick wanderte wieder in die Ferne und ich schnaubte wütend. War es wirklich so schwierig? Nur ein Wort, ein Nicken würde mir schon reichen und wir könnten unsere Sachen zusammenpacken und verschwinden. Diesen sinnlosen Kampf und ihren Schmerz hinter uns lassen. »Ich war glücklich, Dorian« flüsterte sie und die Tränen, die in ihre Augen stiegen, straften ihre Worte Lügen.
»Du kommst nicht mit?«
»Ich muss zurück nach Hause«
»Wie du wünscht«
Ich wollte nochmal ihr Gesicht berühren, aber die Wut in mir verbat es, überhaupt an Zärtlichkeiten mit ihr zu Denken. Wie oft würde sie mich noch zurückweisen müssen, bis ich Trottel es verstand?
An der Tür blieb ich nochmal stehen und sah zu ihr zurück. Ein verlorenes, verletztes Bündel, dass unbedingt zurück in die Höhle des Löwen wollte.


Erzherzogin Lavinia - das Mädchen unter vielenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt