8. September 1768, kurz vor Sonnenaufgang
Wolkenlos und kalt neigte die Vollmondnacht sich dem Ende zu. Auf einem hohen Schornstein, umgeben von alten Türmen und Dachzinnen, stand eine schwankende Gestalt: Sir Rigobert. Im ersten Tageslicht erkannte der junge Vampirjäger weit unten den Wald. Bald würde die Sonne aufgehen.
Alles war schief gelaufen. Er hatte den Grafen unterschätzt. Nur mit großer Mühe hatte es der Vampirjäger geschafft, den Kaminschacht hinauf bis zur höchsten Stelle des Schlosses zu klettern. Viel Zeit blieb ihm jetzt nicht mehr, hastig holte er etwas aus seiner Tasche. Doch was dann geschah, reihte sich zu den vielen Missgeschicken dieser Nacht ...
So rasch es sein Zustand erlaubte, kletterte Sir Rigobert vom Schornstein hinunter auf die morschen Ziegel des Dachfirsts. Wie durch einen Schleier nahm er am anderen Ende das alte Seil wahr. Am First befestigt, hing es die Dachschräge hinab und reichte von hier bis knapp an die Dachgaube heran, durch deren Fenster er in die Dachkammer gelangen konnte.
Seine letzte Hoffnung lag in dieser Kammer, seinem Rückzugsort der letzten zwei Monate.
Dringend brauchte er die zweite Ampulle, die in der Kammer verborgen lag. Die Ziegel waren gerade so breit wie sein Fuß. Schwankend arbeitete Sir Rigobert sich voran, Schritt für Schritt.Schließlich erreichte er das Seil, ergriff es mit zitternden Händen und setzte sich auf den First, um kurz auszuruhen. Die Zeit lief! So viel hatte er herausgefunden - sollte das alles umsonst gewesen sein? Er musste seinen Weg fortsetzen.
Vorsichtig ließ er sich über das schräge Dach bis zur Gaube hinab gleiten. Mit letzter Kraft schwang er sich auf das Fenstersims und ließ sich in die Kammer fallen.
Das erste Tageslicht erhellte sein Versteck in einem schwachen, warmen Rotton, für dessen Schönheit Sir Rigobert jedoch keine Augen hatte. Panikartig suchte er den Raum ab, bis er endlich die lockere Diele bei der Tür erkannte.
Dort musste er hin!
Er torkelte über die morschen Bretter des Holzfußbodens. Kurz vor der Tür wurde ihm schwarz vor Augen, er griff verzweifelt nach dem Türgriff. Doch der war alt und rostig und brach sofort ab. Der Vampirjäger stürzte zu Boden, schaffte es aber sich wieder aufzurichten.
Erschöpft hielt er kurz inne, dann bog er das alte Holz der Diele nach oben und zog aus dem darunter liegenden Hohlraum eine Ledertasche. Sein Tagebuch fiel heraus, die Schreibfeder, das Tintenfläschchen. Blaue Flüssigkeit zerrann zwischen den Dielen.
Unwichtig.
Hektisch tastete er den Taschenboden ab. Das Antiserum! Seine letzte Chance, dem Schicksal noch zu entrinnen. Eine Ampulle hatte der Graf ihm abgenommen, jetzt umgriffen seine zitternden Hände das Reserveglas. Doch im selben Moment sank er von Schwindel erfasst zu Boden.
Als er wieder zu sich kam, blickte er in seine Hand. Sie war leer. Die Ampulle! Sein Kopf neigte sich zur Seite. Gerade noch nahm er wahr, wie etwas in einer Rille zwischen den Holzdielen verschwand. Vergeblich streckte er seine Hand aus, versuchte sich noch einmal aufzuraffen.
Doch er war zu schwach.
In diesem Moment wusste Sir Rigobert, dass er verloren hatte. Mühsam griff er zu Tagebuch und Schreibfeder, die auf dem Holzboden neben ihm lagen, schlug das Buch auf, tunkte die Feder in den frischen Blutfleck unter ihm und begann zu schreiben.
Eine Welle von Übelkeit überkam den Vampirjäger und seine Kiefer begannen unerträglich zu schmerzen. Irgendetwas in seinem Inneren veränderte sich immer schneller. Hastig und zitternd schrieb er weiter, dann schlug er das Tagebuch zu, legte es zurück in die Ledertasche, versteckte sie mit letzter Kraft unter der lockeren Diele und sank dann rücklings auf den nackten Boden.
Seine Gedanken wanderten in die Vergangenheit. Er erinnerte sich genau, wie er die seltsamen Worte von der alten Karte in das Tagebuch übertragen hatte:
„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit ..."
Jeden seiner Schritte, all seine Bemühungen hatte diese Weisung seither bestimmt, doch es war alles umsonst gewesen.
Wie in Zeitlupe wanderte sein Blick von der Zimmerdecke zum Fenster. In der Ferne erblickte er die Silhouette der Berge, das Morgenrot - und genau in diesem Moment stieg die Sonne über den Horizont. Dunkelrot glühte das frische Bissmal auf seinem Hals: Das Geheimnis um Schloss Rottstein blieb ungelöst ...
DU LIEST GERADE
Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasy„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...