Der Klassenausflug

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3. Juni 2019, später Nachmittag

Eigentlich hatte Lena sich auf den Ausflug gefreut. Das Thema waren alte Städte, Schlösser und Burgen. Orte, an denen Menschen in weit zurückliegenden Zeiten spannende Abenteuer erlebt hatten.

Lena liebte das. Leidenschaftlich und oft viel zu lange las sie davon in Büchern, am liebsten dicken Wälzern, und es fiel ihr schwer sie vor der allerletzten Seite zuzuklappen. Auch gestern Nacht war sie erst kurz vor dem Morgengrauen mit dem Buch in der Hand eingeschlafen.

Für Lena war der Ausflug bislang enttäuschend verlaufen. Frau Hasenjäger, ihre Geschichtslehrerin, war alles andere als eine begabte Erzählerin. Das einzig Interessante war bislang eine Hasenfamilie gewesen, die Grünzeug knabbernd durch eine Burgruine gehoppelt war.

Auf dem Weg zu ihrem letzten Ziel, Schloss Rottstein, war Lena gerade eingenickt, als irgendetwas sie anstieß. Sie blickte auf und erkannte Sven Peters, der über ihre Füße gestolpert war. Oh nein, der Oberclown und Allerdümmste-Sprüche-Klopfer ...
Sven sah sie herausfordernd an. „Hey Lena, pass doch auf, wo du deine Füße hinstreckst, das hier ist mein Box Ring! Ich war übrigens gerade auf der Suche nach einem Trainingspartner für'n kleines Kämpfchen. Wie sieht's aus mit dir, traust du dich?"

In das allgemeine Gelächter ihrer Mitschüler hinein baute sich Lena vor dem Jungen auf. „Sven Peters, wenn deine Fäuste irgendwann mal so groß sind wie deine Klappe, dann wären wir zwei – zumindest kräftemäßig – auf Augenhöhe. Bei allem anderen habe ich da wenig Hoffnung!" Dabei tippte sie sich mit dem Zeigefinger an den Kopf.

„Ooooooh!", erschall es von den benachbarten Plätzen, gefolgt von erneutem Gelächter. Sven wollte gerade grinsend etwas erwidern, als Frau Hasenjäger ihn unterbrach.

„Hey, hinsetzen dahinten, aber dalli!" Sie räusperte sich. „So, alle aufgepasst: Wir sind gleich beim Schloss. Dort bitte ich euch, stets bei der Gruppe zu bleiben, den Anweisungen von Herrn Gollwinkel, dem Schlossverwalter, zu folgen, und nichts anzufassen. Verlasst den Bus vorsichtig und langsam. Habt ihr mich verstanden?!"
Im selben Moment machte der Bus eine scharfe Wendung und kam zum Stehen. Die Türen öffneten sich und alles stürmte zum Schloss.

Vor dem alten Gemäuer blieb Lena fasziniert stehen. Ihr Blick wanderte an der alten Natursteinmauer hoch.

Die großen Steine, aus denen sie erbaut worden war, ragten an manchen Stellen bedrohlich aus der Mauer heraus. Das Schloss war riesig. Im Stillen bewunderte Lena die Erbauer, die vor Jahrhunderten ohne moderne Hilfsmittel so etwas hatten erschaffen können.

Hoch oben erkannte sie Türme, Steinfiguren und Vorsprünge mit dunklen Fenstern, die wie große Augen auf sie herabzustarren schienen.

Plötzlich nahm Lena aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Sie drehte sich um, und blickte in die dunklen Augen des Schlossverwalters. Er sah sie mit einem Blick an, den sie nicht einordnen konnte. „Keine Angst, junge Dame ...", sagte er leise, „...sieht bedrohlicher aus, als es ist. Nur nachts solltest du dich von dem alten Gemäuer fernhalten ..." Dabei zwinkerte er ihr seltsam zu.

„Na klar", entgegnete ihm Lena. „Zur Geisterstunde geht da drin die Gespenster-Party los, was?"

Der Verwalter sah sie wortlos an und murmelte irgendetwas Unverständliches. „Komm, es wird Zeit", sagte er schließlich. „Deine Freunde warten." Damit wendete er sich ab und ging zum Schloss. Stirnrunzelnd folgte ihm Lena.

Laut schnatternd wartete die Klasse an der Eingangstür. Der Schlossverwalter öffnete die große Flügeltür und ließ die Klasse herein. Im Schloss roch es muffig und es war bitterkalt. Lena zog sich ihre Jacke an.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt