Der traurige Turm

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Der Schrei des Adlers ging durch Mark und Bein. Er war um viele Jahre älter, als die Natur es für seine Art vorgesehen hatte und sein Gefieder hatte er bis auf das seiner Flügel fast zur Gänze verloren.

Am schlimmsten aber waren seine Augen.
Sie waren von einer Traurigkeit erfüllt, die aus allertiefster Seele kam. Hoch oben in dem Turm saß er auf einem der dicken, hölzernen Balken, die das Dach stützten.

Gefesselt war er mit einem dicken Eisenring, der an seinem rechten Fuß befestigt war und an einer Kette hing, die fest in der Steinmauer verankert war.

Ebenso traurig hockte Karlina neben dem Adler auf dem Balken. Wie sehr sie es hasste, diesen alten Vogel zu quälen.

Mit dem herausgebrochenen Zahn des alten Vampirs machte sie sich an die furchtbare Arbeit. Sehnsüchtig schaute der Adler durch das kleine Fenster des Turms in den Nachthimmel hinaus.

Freiheit, frische Luft, die Jagd. Es war eine Ewigkeit her.

Mit aller Kraft kämpfte Karlina gegen das an, was sie nun tun musste. Tränen liefen ihr über das Gesicht, aber sie konnte sich gegen den Befehl ihres Onkels nicht wehren.

„Es tut mir so leid", sagte sie schluchzend.

Dann bewegte sie die Spitze des Zahns langsam zu einer kahlen Stelle auf der Brust des großen Vogels und stach diese, so sanft es ihr möglich war, auf. Daraufhin tat sich die alte Wunde auf, die schon unzählige Male geöffnet worden und wieder verheilt war. Wie jedes Mal schrie der alte Raubvogel so mitleiderregend, dass Karlina fast schlecht wurde.

Langsam aber stetig tropfte das dunkle Blut aus der Wunde. Karlina hielt ein blechernes Gefäß darunter und fing die Tropfen auf. Ihre Hände zitterten.

Sie liebte ihren Onkel, auch wenn er alt, schrullig und oft schlecht gelaunt war. Aber die Gefangenschaft dieses stolzen Tieres empfand sie als tiefes Unrecht.
All das nur wegen seines Blutes, das der Graf nicht gegen Karlinas Rote-Beete-Saft tauschen wollte.

Frisches Blut musste es sein! Karlina verstand diese Sturheit nicht. Aber lag das nur daran, dass sie bis heute Nacht noch nie echtes Blut getrunken hatte?

Schließlich war ihr beim Anblick Lenas auch das Wasser im Munde zusammengelaufen.

Nein, sie wollte so nicht sein.

Die Freundschaft mit Lena erschien ihr tausendmal spannender als das Dasein ihrer Vorväter und deren albernes Blutgeschlürfe.

Karlina seufzte. Früher war alles so einfach. Da hatte sie nichts in Frage gestellt und jetzt wusste sie nicht mehr, wer oder was sie war. Die Begegnung mit Lena hatte alles verändert und sie wollte mehr davon.

Sie wollte mit ihr reden, lachen und sie und ihre Welt kennenlernen!

Aber ging das? Konnte sie in diese Welt gelangen? Sie dachte an einen Fisch, der nur das Meer kennt und plötzlich eine Zeitlang an Land leben wollte.

Doch für Karlina gab es kein Zurück mehr und deshalb musste sie dem Mädchen helfen.

Aber wie? Sie hatte keine Ahnung.

Ihre Grübelei wurde jäh unterbrochen, als sie tief unter sich das Knarren der Holztür hörte, die in den Traurigen Turm hinein führte.

„Quaack!" Pierre, der als erster in den Turm getreten war, wollte etwas sagen, doch anstatt zu sprechen, machte er nur seltsame Froschlaute.

„Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, sie sollen mit dem Ring nicht herumspielen?", sagte der Professor mit vorwurfsvoller Stimme. „Jedes Mal nehmen Sie den falschen Finger und dann das!"

„Hallo Herr Professor!", rief Karlina aus luftiger Höhe herunter und wischte sich hastig über die Augen. „Was ist das für ein Ring? Und was macht der gute Pierre für lustige Geräusche?"

„Quiiiek!", kam es aus Pierres Mund als Antwort, die verdächtig nach einem kleinen Ferkel klang.

„Geben Sie endlich Ruhe, Pierre!" Der Professor rammte seinen Fuß gegen das Schienbein seines Assistenten, worauf dieser ein tiefes „Muuuh!" vernehmen ließ und verstummte.

„Verehrte Karlina, es ist ... nun ja ... ein missglücktes Experiment", sagte der Professor mit deutlich freundlicherer Stimme.

„Aber es ist halb so wild. Das vergeht wieder. Hat die verehrte Tochter des Grafen das Menschenkind gesehen oder gehört? Der Graf hat uns, wie soll ich sagen, er hat uns nach ihr geschickt. Er möchte ... er würde gerne ... nun, Sie wissen schon."

Seufzend tätschelte Karlina den großen Vogel und bat ihn still um Verzeihung.
Das Gefäß war so gut wie voll.

Dann wendete sie sich ab, balancierte zum Ende des Holzbalkens und kletterte vorsichtig auf den Absatz der hölzernen Treppe.

„Warten Sie, Herr Professor, ich bin gleich bei Ihnen".

Leichtfüßig lief sie, das volle Gefäß in ihrer Hand balancierend, die Treppe hinab und an einer kleinen Tür in der Turmmauer vorbei auf die beiden Halbvampire zu. Wie so oft überlegte Karlina, was wohl die Funktion dieser Tür sein mochte.

Unten angekommen, rümpfte der Professor die Nase beim Anblick des Blutes. „Nun, äh, wie es scheint, hat Ihr verehrter Onkel mal wieder Blutdurst, wie?"

„Herr Professor, mein Onkel hat immer Blutdurst, das wissen Sie doch", antwortete Karlina. „Sie haben Le ... ich meine das Menschenkind noch nicht gefunden? Tja, schade, aber hier war sie nicht. Falls sie sich hier blicken lässt, schicke ich sie zu meinem Onkel. Ich selber habe ja den Befehl erhalten, hier zu bleiben.", sie versuchte, so unaufgeregt wie möglich zu klingen. „Wären Sie also nun so freundlich und würden dieses wundervolle Gefäß mitsamt seines geschmackvollen Inhalts dem Herren des Schlosses bringen?"

Karlina konnte ihren Zynismus nicht verbergen. Zu sehr war sie von ihrem Onkel enttäuscht.

Dass sie nun den Professor so unfreundlich anging, tat ihr aber schon im selben Moment leid.

„Hören Sie, lieber Professor, es tut mir leid, ich bin ...", begann sie, aber der alte Mann unterbrach sie sanft.

„Lassen Sie es gut sein, junges Fräulein. Glauben Sie mir, ich ... also, wir zwei ..." - dabei wies er auf seinen Assistenten, der es nur mit Mühe schaffte, weitere peinliche Tierlaute zu vermeiden - „ ...wir haben vollstes Verständnis für Ihre Lage."

Die mitfühlenden und doch sehr wohlwissenden Worte des Professors waren zu viel für Karlina. Sie wendete sich ab, stellte das Gefäß auf den Boden und konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

Hemmungslos begann sie zu weinen.

Vorsichtig nahm der Professor das Mädchen in seine Arme, Pierre Petit sah Karlina mitfühlend an. Ein leises „Piiieps!" war das einzige, was er zu der Szene beitragen konnte.

Die drei sagten einen langen Moment lang nichts. Und doch lag im Schweigen des Professors und Pierres und im Schluchzen Karlinas zwischen ihnen das gegenseitige Verständnis für durch und durch menschliches Leid.

Als Karlina sich schließlich beruhigt hatte, ließ der Professor sie los. Die beiden Halbvampire waren ihr sehr sympathisch, aber so nah war sie ihnen bisher nie gekommen.

Sie wollte etwas sagen, doch der Professor kam ihr zuvor.

„Liebe Karlina, Sie sitzen gerade zwischen zwei Stühlen, wenn ich das so sagen darf. Aber bitte denken Sie daran, dass es Entscheidungen im Leben gibt, die nicht immer leicht sind." in den Augen des Professors leuchtete etwas auf. „Und seien Sie ehrlich, haben Sie nicht schon längst eine Entscheidung gefällt?"

Karlinas Augen weiteten sich staunend.

„Sie sind ein starkes Mädchen, meine Liebe ...", fuhr der Professor fort, „Sie werden das Kind schon schaukeln, wenn Sie verstehen, was ich meine. Seien Sie unbesorgt!" Dabei zwinkerte er ihr vielsagend zu.

„Und nun entschuldigen Sie uns, auch wir haben einen Befehl erhalten."

Mit diesen Worten stieß der Professor seinen Assistenten an und deutete auf das Blutgefäß am Boden.

„Na los sie Tollpatsch, nehmen sie die Mahlzeit für den Grafen an sich. Wir wollen den hohen Schlossherrn schließlich nicht enttäuschen, oder?"

Die beiden verneigten sich vor Karlina, um sich dann schnell zu entfernen. Der Gang des Assistenten erinnerte Karlina irgendwie an den einer Spinne ... Ihr Blick wanderte nach oben zum Adler, der reglos auf dem Holzbalken kauerte. In ihrem Herzen keimte ein leichter Hoffnungsschimmer auf.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt