Auf der Suche

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Lena las und las.

Hätte sie dieses Buch zu Hause in ihrem Bett gelesen, so hätte es der Anfang einer sehr spannenden, gruseligen Geschichte sein können. Eine Geschichte, die man abends unter der Bettdecke heimlich weiter las, wenn schon längst Bettzeit war und nach der man vor Aufregung nicht einschlafen konnte.
  
Aber hier war alles anders: Diese Geschichte war erschreckende Realität.

Sie las weiter bis sie schließlich zu den letzten Zeilen im Tagebuches des Rigobert von Rasselbinge kam. Jenem unglücklichen Ritter und Vampirjäger, der laut der Datierung im Tagebuch im Jahre 1768, also vor rund 250 Jahren, hier im Schloss auf Vampirjagd gewesen war.

Ein Mann, dem nach dem Biss des Grafen die Flucht nicht gelungen war. Nein, er musste hier in diesem Raum sein Ende gefunden haben.
  
Doch nichts im Raum deutete auf menschliche Überreste hin.

Lena kombinierte: Von Vampiren gebissene Menschen wurden, zumindest in Büchern und Filmen, selbst zu Vampiren. Sterben konnten sie nur mit einem Holzpflock im Herzen oder wenn sie dem Sonnenlicht ausgesetzt waren.

Himmel, Lena, das sind Gruselgeschichten!, dachte sie bei sich. Das hier ist keine Geschichte, das ist ... ja, was ist das hier eigentlich? Die Realität? Das echte Leben? Sie wusste es nicht.
  
Schließlich wendete sie sich wieder dem Tagebuch zu.

Darin war ganz hinten ein Grundriss eingeheftet, auf dem nicht nur die Räume, Gänge und Stockwerke eingezeichnet waren. Auch verborgene Gänge und Tunnel befanden sich darauf, Lena erkannte auf dem vergilbten Papier ihren Fluchtweg vom Verließ bis in den Kamin hinein, der in gestrichelten Linien auf einer gesonderten Zeichnung vermerkt war.

Bei dieser Zeichnung handelte es sich um einen Querschnitt des Gemäuers, der so aussah, als hätte jemand das Schloss wie einen Kuchen in zwei Hälften geschnitten.
  
Deutlich war der gegrabene, senkrechte Tunnel aus dem Verließ zu erkennen, der plötzlich in einen schon bestehenden waagerechten Gang mündete, der wiederum in dem Kaminschlot endete.

Lena erinnerte sich daran, dass der Gang sich in der anderen Richtung in der Dunkelheit verloren hatte. Mit dem Finger fuhr sie ihn in diese Richtung entlang - auf der Karte führte dieser Teil des Tunnels in ein Labyrinth von Gängen hinein, aus dem man allem Anschein nach nicht allzu leicht wieder herauskam.
  
Einer dieser Gänge endete tief unten plötzlich im Nichts. An genau diesem Ende waren seltsame Schriftzeichen in den Plan eingezeichnet, mit denen Lena nichts anfangen konnte.

Noch rätselhafter waren in ihren Augen die letzten Zeilen des Tagebuchs:

   „Wer immer diese Zeilen finden möge, sei gewarnt. Mit mir geht es zu Ende, doch der Weg zur Heimstatt der Vampire existiert tatsächlich. Das Geheimnis hat sich mir auf furchtbare Weise offenbart. Rufe nach der Macht des Aquila, das ist deine einzige Chance! Ich hoffe, Fremder, dir ist mehr Glück beschieden als mir. Die zweite Hälfte der Karte ..."

   Und genau dort endeten die Zeilen ausgerechnet da, wo Rigobert offensichtlich etwas über die zweite Hälfte der Karte vermerken wollte!

Warum?

War Rigobert von Rasselbinge ganz plötzlich gestorben? Wurde er gestört?
  
Und was sollte die Andeutung „Das Geheimnis hat sich mir auf furchtbare Weise offenbart" bedeuten?
  
Lena sah zu ihren kleinen Rattenfreunden. Inzwischen hatten sie das Brot restlos aufgefressen und verharrten reglos vor einer Tür, die Lena bisher nicht aufgefallen war.

Fast unsichtbar schloss sie mit der Wand ab und hatte keinen Türgriff.

Als warteten sie darauf, herausgelassen zu werden, kauerten die Ratten genau davor.
  
Lena dachte nach. Die letzten Zeilen in dem Tagebuch hatten ihr eine Information gegeben, die der Graf und sein Gefolge vermutlich nicht besaßen.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt