Ein mysteriöser Adler

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Der Professor eilte durch die dunklen Gänge zum Traurigen Turm. In dieser Nacht hatte sich alles verändert. Nach mehr als 150 Jahren des Wartens überschlugen sich die Ereignisse.

Flucht, Freiheit, ein neues Leben - alles schien möglich.

Doch wie konnte dieses neue Leben aussehen? Sollten sie nach Paris zurückkehren? Was würde sie dort erwarten und würden sie die Stadt überhaupt wiedererkennen? Es wäre eine Reise in die Zukunft, in eine veränderte Welt voller Überraschungen!

Dann fiel ihm seine Frau ein, die er so schmerzlich vermisste.

Wohin war sie verschwunden? All die Jahre hatte der Graf darüber geschwiegen. Es hatte den Professor fast um den Verstand gebracht, doch mit der Zeit hatte er sich an die Ungewissheit gewöhnt und jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben.
  
Natürlich hatten sie aus ihrem Versteck im Keller die Schulklassen gehört, die das Schloss besuchten. Aber was hätten sie tun können? Sein verbrannter Fuß hatte ihn immer wieder daran erinnert, dass sie nicht ans Tageslicht gelangen konnten.
  
Verfluchte Grübelei, dachte der Professor. Das führt zu nichts, außer dass mein Fuß wieder zu schmerzen beginnt!
Er war fast an der Tür zum Traurigen Turm angelangt und ließ sich auf einen alten Stuhl mit seidener Sitzfläche fallen, um den Fuß zu massieren. Nie hatte er sich erklären können, warum er so stark behaart war.

Es musste auf irgendeine Weise mit der Verwandlung und den nebulösen Eigenschaften der Halbvampire zusammenhängen.
  
Schließlich erhob sich der Professor, erreichte die Tür zum Traurigen Turm und trat ein. Er sah sich um. In dem kargen Raum war nichts von Karlina zu sehen. Erst als er nach oben schaute, erblickte er sie.

Es war ein zutiefst trauriges Bild: Karlina saß neben dem alten Vogel und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Der Vogel selbst, zerrupft und nur noch ein Schatten des einstmals so stolzen Tiers, starrte mit traurigen Augen aus dem Fenster.

Der Professor musste tief durchatmen, dann räusperte er sich hörbar.
  
„Herr Professor?" Überrascht schaute Karlina auf. „Sagen Sie bitte nicht, dass mein Onkel wieder durstig ist. Ich bringe es nicht noch einmal übers Herz. Richten Sie ihm das mit herzlichen Grüßen aus!" Sie lächelte schwach.
  
Dem Professor blieb die Ironie in Karlinas Worten nicht verborgen.

„Fräulein Karlina, seien Sie unbesorgt, es ist nicht der Graf, der mich zu Ihnen geschickt hat."
  
„Ach nein? Was verschafft mir dann die Ehre Ihres Besuchs?"
  
„Nun, lassen Sie es mich so formulieren: Es sind erstaunliche Dinge geschehen, seit der Herr Graf Sie hierher geschickt hat. Wir haben soeben mit ihrer Freundin, dem Fräulein Lena, gesprochen."
  
„Was sagen Sie?" Karlina richtete sich auf und stand schwankend auf dem Balken. „Lena? Sie ist noch nicht geflohen? Wo ist sie, was ist geschehen? So sprechen Sie doch, Herr Professor!"
  
„Bitte!" Beschwichtigend hob der Professor die Hände. „Seien Sie doch vorsichtig! Es ist niemandem damit geholfen, wenn Sie von dort oben in den Tod ... also ... wenn Sie jetzt abstürzen. Kommen Sie erst einmal herunter, dann erkläre ich Ihnen alles."
  
Ohne zu antworten lief Karlina geschickt den Balken entlang, sprang auf den Treppenabsatz und lief, immer drei Stufen auf einmal nehmend, die Holztreppe hinab.
  
„Jetzt erzählen Sie schon, Herr Professor. Geschwind!" Ihre Stimme überschlug sich, als sie schließlich vor dem Professor stand.
  
Und dann begann Horatio Fromage zu berichten. Von allem, was passiert war, seit Karlina Lena im Verlies zum letzten Mal gesehen hatte.

Er erzählte ihr von der Dachkammer, vom Fund des Tagebuchs und den unvollendeten Zeilen, die hoffentlich sie, Karlina, entschlüsseln könne.

Außerdem vom Plan des Grafen, Lena in einen Hinterhalt zu locken, um sie dann - vor dem Verzehr - nach genau diesem Versteck und möglichen Hinweisen auf die zweite Kartenhälfte suchen zu lassen.

Zuletzt berichtete er von Lenas Idee, ihre Freiheit und die des Professors und seines Assistenten obendrein gegen das Geheimnis um die verlorene Kartenhälfte einzutauschen.
  
Als der Professor verstummt war, sah Karlina ihn mit großen Augen an. Ihre Mimik verriet, wie besorgt sie war.

„Es ist ein riskanter Plan", sagte sie. „Sie kennen meinen Onkel, Herr Professor. Er wird sich diese Mahlzeit nicht so einfach entgehen lassen. Außerdem kann ich hier nicht fort. Mein Onkel hat mich hier eingesperrt. Sie müssen das Tagebuch hierher bringen und anschließend ..."
  
„Entschuldigen Sie meine Zerstreutheit", unterbrach sie der Professor. „Hiervon hatte ich Ihnen noch gar nicht erzählt." Er holte den Ring aus seiner Jackentasche und hielt ihn Karlina entgegen.
  
„Aber woher ...?" stammelte sie.
  
„Ein anderes Mal, Fräulein Karlina. Unsere Zeit ist knapp. Hiermit sollten Sie sich problemlos dem Befehl Ihres Onkels wiedersetzen und den Traurigen Turm verlassen können!"
  
Karlina bewegte sich nicht.

Ihr Blick ging nach oben und blieb auf dem Adler haften.

„Geben Sie mir den Ring, Herr Professor, ich habe noch etwas zu erledigen."
  
Der Professor setzte zu einer Antwort an, doch Karlina ließ ihn nicht zu Wort kommen.

„Hören Sie, ich kann nicht gehen, bevor ich es getan habe, bitte!" Mit flehendem Blick starrte sie den alten Mann an.
  
Schließlich lenkte er ein und reichte Karlina den Ring. „Also schön, aber bitte beeilen Sie sich!"
  
Ohne ein weiteres Wort ergriff Karlina den Ring und rannte die Holztreppe hinauf. Schwer atmend stand sie schließlich wieder vor dem Adler.
  
„Jetzt kann ich wenigstens ein bisschen von dem wieder gut machen, was dir in all den Jahren angetan worden ist. Ich gebe dir hiermit zurück, was dir vor langer Zeit genommen wurde. Die Freiheit!"
  
Dann nahm sie den Ring und hielt ihn an das eiserne Schloss, das am Fuß des Adlers befestigt war. Es sprang mit einem metallischen Klirren auf und befreite den Vogel aus seiner Gefangenschaft.

Der Adler blickte Karlina an.

Für einen kurzen Moment erkannte sie ein Glimmen in seinen Augen, doch im nächsten Augenblick war es schon wieder verschwunden.

Der Adler richtete seinen Blick zum Fenster des Turms hinauf, gleich würde er seine alten Flügel ausbreiten und in die Freiheit fliegen! Doch dann senkte er seinen Blick und betrachtete das Vampirmädchen.

Es sah aus, als würde der Vogel langsam seinen Kopf schütteln.

Er flog nicht, er versuchte es nicht einmal, er blieb einfach sitzen.
  
„Nun flieg schon, los, flieg!", flehte Karlina ihn an.

Nichts geschah. Jetzt wurde sie wütend.

„Na los, du dummes Federvieh, du bist frei. Hau schon ab, ich will dich fortfliegen sehen!"

Sie versuchte ihn vom Balken zu schieben, war aber gegen den riesigen Adler machtlos.

Resigniert ließ sie von ihm ab, eine Träne lief ihr über die Wange. Sie hob den Kopf. Fragend sah sie dem riesigen Tier in die Augen und was dann geschah, ließ Karlina um Haaresbreite vom Balken fallen.
  
Der Adler sprach.
  
„Eile dich, Karlina. Deine Freunde brauchen dich. Du musst schnell sein, sonst ist alles zu spät!"
  
Vor Überraschung wusste Karlina nicht, was sie sagen sollte. Das war doch nicht möglich! Ihre Fantasie musste ihr einen Streich gespielt haben. Die Stimme konnte sie sich nur eingebildet haben. Eilig drehte sie sich auf dem Balken um und hörte nicht auf zu rennen, bis sie beim Professor angekommen war.

„Lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren, Herr Professor, kommen Sie!"
  
Und so machten sich die zwei auf den Weg in die alte Bibliothek.

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt