Pierres Meisterleistung

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Ungeduldig lief der Graf in der Eingangshalle auf und ab.

Warum kamen seine zwei Diener nicht wieder? War das Mädchen doch entkommen?

Unmöglich.

Sir Rigoberts Gang führte nach oben, da war sich der Graf sicher. Er endete hier im alten Kamin, das hatte die schwarze Ratte für ihn herausgefunden.

Aber wohin war sie anschließend geflüchtet? Auf das Dach? Wohl kaum, denn von dort waren es gut dreißig Meter bis zum Erdboden. Der Graf fluchte vor sich hin. Das Mädchen war listig und außergewöhnlich mutig.

Und das war der Grund, weshalb er um keinen Preis die Eingangstür unbewacht lassen durfte. Sein Plan musste einfach funktionieren.

Die Kraft seines Ringes war doch keinesfalls zu unterwandern, oder?

„Ich bin aus der Übung", sprach der Graf leise, „zu viele Jahre sind seit der letzten Menschenjagd vergangen. Ich muss vorsichtig sein, sehr vorsichtig!"

Er war kurz davor selbst nach dem Mädchen zu suchen, als er von der steinernen Treppe her Schritte hörte.

—————

Auf dem Weg hinab zum Grafen fühlte sich Pierre elend.

In all den Jahren hatte er nicht ein einziges Mal alleine vor dem alten Vampir gestanden.

Immer war der Professor dabei gewesen und hatte das Reden übernommen. Freilich hatte sich Pierre oft ausgemalt, wie es wäre, dem schrulligen Grafen mal so richtig die Meinung zu sagen. Ein mutiger Pierre Petit! Was für ein wunderbarer Gedanke.

Doch das war ihm einfach nicht gegeben. Und dann war plötzlich dieses Mädchen erschienen - Lena! Sie trotzte dem Grafen und sprach immer aus, was sie dachte.

Aber Pierre war kein oberflächlicher Beobachter. Sehr wohl erkannte er die Empfindsamkeit des Mädchens.

Und genau diese Mischung aus Mut und Sensibilität war es, die er so anziehend fand. In seiner Zeit in Paris waren fast alle Mädchen brav und angepasst. Sie interessierten sich für ihr Äußeres und träumten von Kleidern, Geld und reichen Männern! Zu keinem von ihnen hatte sich Pierre hingezogen gefühlt.

Lena allerdings faszinierte ihn - trotz ihres jungen Alters. Er selbst zählte immerhin schon 19 Jahre, zumindest war das sein Alter, als er hier angekommen und die Zeit stehengeblieben war.

Ja, wenn er es sich recht überlegte, war er mehr als nur ein bisschen fasziniert von Lena ...

Als er die Eingangshalle betrat, holte ihn die wütende Stimme des Grafen unsanft in die Wirklichkeit zurück.

„Was hat das zu bedeuten, wo sind der Professor und das Mädchen?! Sprechen Sie, oder ich sauge Sie ein zweites Mal aus! Und bleiben Sie bei der Wahrheit!" Mit einer schnellen Handbewegung fuhr seine Hand mit dem Ring in die Höhe.

Pierres Blick wurde glasig.

„Herr Graf, ich wurde geschickt, um Ihnen mitzuteilen, dass ... dass der Herr Professor und das Mädchen sich auf dem Weg in das Versteck Sir Rigoberts befinden. Sie wissen doch, der Ort nach dem wir seit Jahren gesucht haben. Er war mit Knoblauch ... sehr viel Knoblauch gegen unsere Blicke geschützt."

Der Graf richtete sich auf.

„Sir Rigoberts Versteck!" Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

„Und weiter? Sprich du Nichtsnutz! Was haben die beiden dort zu suchen und warum haben sie sich nicht direkt hierher begeben?"

Pierre Petit fühlte sich hundeelend. Dies ist der mit Abstand schwierigste Moment meines Lebens, ging es ihm durch den Kopf, wobei ihm das Wort Leben seltsam fehl am Platz erschien.

Mit aller Kraft konzentrierte er sich darauf, nur die Fragen des Grafen zu beantworten.

„Herr Graf, ihr Befehl lautete, das Mädchen hierher zu bringen und das wird auch passieren. Doch als sie uns alles erzählte, da dachten wir, es wäre in Ihrem Sinne, wenn wir gleich alles mitbrächten. Sehen Sie, das äußerst verängstigte Mädchen sprach von einem Tagebuch, das der verendete Sir Rigobert seinerzeit angelegt hatte. Darin sollen sich Eintragungen befinden, die weitere Hinweise auf den Verbleib der zweiten Kartenhälfte liefern könnten."

Trotz seiner verängstigten Gedanken hatte Pierre eine geschickte Formulierung gewählt. Er hatte nicht gelogen sondern nur etwas übertrieben, um den Grafen in Sicherheit zu wiegen.

„Ein Tagebuch ..." Die Augen des Grafen begannen zu leuchten. Er kam so nah an den armen Pierre heran, dass dieser zu zittern begann.

„Reden sie weiter, Petit! Erwähnte sie auch den Fund der zweiten Kartenhälfte? Wird sie sie mir bringen?"

„Nein", antwortete Pierre Petit wahrheitsgemäß, „sie sagte, sie würde das Tagebuch holen und es Ihnen übergeben, um dann als Gegenleistung ihrerseits die Freiheit zu erlangen."

Auch hier hatte der Assistent am Rande der Wahrheit gelegen. Natürlich hatte Lena von der zweiten Kartenhälfte gesprochen, der Graf hatte jedoch gefragt, ob sie sie ihm aushändigen würde und das konnte Pierre wahrheitsgemäß verneinen.

„Was hat sie Ihnen sonst noch erzählt? Gibt es etwas, das Sie mir noch verschweigen, Petit?! Raus mit der Sprache!"

Die Frage kam mit einer solchen Kraft, dass Pierre fast augenblicklich losgebrabbelt und alles erzählt hätte. Nur mit größter Konzentration konnte er das verhindern.

Fieberhaft dachte er über eine Antwort nach.

Lenas Drohung, alle Dokumente zu vernichten, sollte der Graf sich nicht auf das Tauschgeschäft einlassen, durfte er um keinen Preis erwähnen!

Doch genau danach hatte der Graf gefragt.

Pierre begann zu schwitzen. Es fiel ihm immer schwerer, der Frage des Grafen auszuweichen.

Und er war allein.

Zum ersten Mal musste er die volle Verantwortung für sein Handeln übernehmen – und in diesem Moment wuchs Pierre Petit über sich hinaus.

In allerhöchster Not fiel ihm eine Gegenfrage ein: „Was sie uns sonst noch erzählt hat? Was meinen Sie damit? Sprechen Sie von der Dachkammer? Und was sie darin noch gefunden hat? Herr Graf, ich würde es nie wagen, Ihnen in dieser Hinsicht etwas zu verheimlichen. Mein Respekt vor Ihnen ist unermesslich, das wissen Sie doch!"

Geschickt hatte Pierre die Frage des Grafen auf den Inhalt der Dachkammer reduziert und ihm durch die schmeichelhafte Erwähnung seiner Macht abgelenkt.

„Respekt? Seien wir doch ehrlich und nennen es beim Namen, junger Freund: Angst. Natürlich haben Sie Angst vor mir. Und nun reden Sie schon, was befindet sich noch in der Kammer?!"

„Nichts weiter, Herr Graf", erwiderte Pierre und war sicher, das Schlimmste überstanden zu haben, was er sich jedoch nicht anmerken lassen durfte. Und so begann er, mit dem Grafen zu spielen und mehr Angst zu zeigen, als er tatsächlich hatte.

„N-N-Nur das, w-w-was ich Ihnen erzählt habe, Herr G-G-Graf", stotterte er so gut es ging und zitterte dabei vor Aufregung, was glücklicherweise zu seinem Spiel passte.

„Also schön ..." Der Graf drehte sich gelangweilt um, setzte sich in den Sessel und fixierte Pierre, der soeben eine wahre Meisterleistung gezeigt hatte.

„Verschwinden Sie. Gehen Sie dem Professor und dem Mädchen entgegen und mahnen Sie sie zur Eile. Keine weiteren Umwege und Überraschungen mehr, haben Sie verstanden?!"

Der Graf hatte die beringte Hand erhoben, worauf Pierres Kopf augenblicklich zu schmerzen begannen. Sein Stottern war nun nicht mehr gespielt.

„J-J-Jawohl, Herr G-G-Graf, ich eile!"

Mit einem schnellen Blick auf den Ring des Grafen - linke Hand - drehte er sich auf dem Absatz um, eilte durch die Halle zur steinernen Treppe und blieb erst wieder stehen, als er außer Hörweite war.

Auf den steinernen Stufen sackte er zusammen und hielt sich die Hände vors Gesicht.

Ein tiefes Seufzen entrang sich seiner Kehle und wurde zu einem hysterischen Lachen.

Pierre reckte die Fäuste in die Luft. „Jaah, ich bin der Größte!", rief er und machte sich auf den Weg.

—————

Ein paar Flure entfernt lag die Bibliothek nun verlassen da.
Zwischen den langen Reihen der Bücherregale herrschte Stille.

Unbeweglich und starr schauten die Adligen derer von Rottstein aus ihren Gemälden.

Und wenn sie etwas hätten sehen oder viel mehr hören können, so wären sie Zeuge geworden, wie auf dem Schreibtisch, nicht weit von der großen Eingangstür entfernt, seltsame Geräusche zu vernehmen waren.

Geräusche, die wie ein leises Knabbern klangen.

Sie kamen aus einer kleinen Zigarrenkiste, die auf eben diesem Schreibtisch lag und auf der wiederrum ein großes Buch platziert war.

Professor Horatio Fromage hatte dort eine hässliche Ratte eingesperrt, die zuvor das Gespräch zwischen ihm, seinem Assistenten Pierre und der jungen Lena belauscht hatte und in dem über Flucht und Freiheit gesprochen worden war.

Die Ratte war drauf und dran, sich mit dieser Geschwindigkeit durch das dünne Sperrholz der Zigarrenkiste zu arbeiten. Sie musste schnellstens zu ihrem Herrn, um zu berichten ...

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt