Nur bruchstückhaft hatte Lena die Unterhaltung zwischen dem Grafen und den zwei Halbvampiren verstehen können. Doch bei den deutlich vernehmbaren Worten des Professors über den bevorstehenden Besuch des Grafen im Traurigen Turm, war sie vor Schreck zusammengefahren.
In den Traurigen Turm!
Dort, wo Karlina laut dem Befehl ihres Onkels in diesem Moment ausharren sollte!
Sie hatten keine Zeit zu verlieren. Es gab eine klitzekleine Chance, und die mussten sie nutzen.
In diesem Moment richtete sich Karlina auf und stieß mit dem Kopf schmerzhaft an die flache Steindecke.
„Auh, verflucht und zugebissen! Was soll das, wo bin ich? Lena? Bist du das?" Sie hielt sich den Kopf vor Schmerzen.
„Du Arme, blutet es schlimm?", versuchte Lena sie mit einem Scherz auf die brisante Notlage vorzubereiten.
„Sehr witzig, was ist passiert?" Nur schemenhaft konnte Karlina ihre Freundin erkennen.
„Okay, hör zu, ich weiß, dass du dich hier nicht besonders wohl fühlst, Karlina. Aber es hilft nichts, dein Onkel ist auf dem Weg in den Traurigen Turm und wenn er dich dort nicht antrifft, haben wir ein Riesenproblem. Wir müssen uns beeilen! Wenn mich nicht alles täuscht, gelangen wir auch von hier aus in den Turm."
Auf allen Vieren eilte Lena krabbelnd voraus. Seufzend folgte Karlina ihr.
Schon nach wenigen Metern war das letzte Licht verschwunden. Es wurde stockfinster. Nur langsam kam Lena voran und musste sich den Weg ertasten.
„Hier muss es nach links gehen", murmelte sie vor sich hin, „dann nach ein paar Metern wieder rechts und dann ..."
„Lena!" Das Zittern in Karlinas Stimme war nicht zu überhören.„Woher weißt du, wo es lang geht?"
„Den Weg habe ich vorhin im Tagebuch Sir Rigoberts studiert. In dem Buch befindet sich eine Karte vom Schloss mit allen Räumen und Gängen. Und daneben sind auch verschiedene Tunnel oder Fluchtgänge verzeichnet. Du würdest staunen, wenn du wüsstest, wie viele es davon gibt, meine Liebe. Warte mal ..."
Lena versuchte sich zu orientieren. Sie waren an eine Kreuzung gelangt. In der Finsternis führte das Labyrinth in zwei Gänge nach rechts und links weiter. Unsicher, wie es weiter ging, verharrte Lena in dem engen Tunnel.
„Was, was ist?" Karlinas Stimme klang, als würde sie jeden Moment wieder ohnmächtig werden. „Sag jetzt bitte nicht, dass du nicht weiter weißt. Lena, ich muss hier ganz schnell wieder raus, bitte!"
Mit geschlossenen Augen rief sich Lena den Plan ins Gedächtnis. Plötzlich hörten sie weit entfernt - aus dem linken Gang - einen Schrei. Er war eindeutig nicht menschlich.Lena konnte sich daraus keinen Reim machen, doch Karlina klärte sie auf.
„Oh, mein Gott, Lena ich schäme mich so, das ist ein alter Adler, den wir seit Urzeiten als Blutspender gefangen halten! Verflucht, was sind wir für eine schreckliche Familie!"
„Da hast du Recht, Karlina!", pflichtete Lena ihr bei. „Eine Familientherapie würde Euch bestimmt gut tun!"
„Wie bitte?" Karlinas Stimme war neugierig geworden. „Eine ... was?"
„Vergiss es! Komm weiter!", unterbrach Lena sie und war insgeheim froh, dass ihre Freundin für einen Moment von ihrer Angst abgelenkt war.
Nach ungefähr fünfzehn Metern wurde es unversehens heller. Lena sah auf und erkannte nicht weit vor ihnen die Lichtquelle. Kurze Zeit später erreichten sie das Ende des Ganges.
Karlina hockte sich neben Lena auf den Boden. Gemeinsam schauten sie durch ein kleines vergittertes Loch, das sich in einer niedrigen Holztür befand.
„Der Traurige Turm!", flüsterte Karlina. „Ich weiß, wo wir sind. Wir befinden uns unmittelbar über dem oberen Treppenabsatz, von dem man zu dem Adler ins Dachgebälk klettern kann. Ich habe mich schon oft gefragt, wohin diese Tür wohl führt!"
Oben im Gebälk konnten sie den armen Vogel sehen, der wie immer still auf dem Balken saß. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Karlina jedoch, dass sein Blick auf die Holztür gerichtet war, hinter der die Mädchen hockten.Bei der Erinnerung an ihre letzte Begegnung war sie sich sicher, dass ihre Fantasie ihr einen Streich gespielt hatte, als sie den Vogel plötzlich sprechen gehört hatte. Sie musterte das Tier von oben bis unten und erschrak!
Die Kette, von der sie vor Kurzem den Adler befreit hatte, hing deutlich sichtbar von dem Holzbalken herab.
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasía„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...