Graf Karl von Rottstein tobte vor Wut. Zornentbrannt schleuderte er Lenas Jacke in die Ecke der Eingangshalle und marschierte mit geballten Fäusten zu Karlina. Dicht vor ihr blieb er stehen, hob eine Hand - und schlug sie mit aller Kraft gegen die Steinwand unmittelbar neben seiner Nichte. Putz rieselte auf den Boden.
„Wie konnte das passieren?", brüllte der Graf. Karlina zuckte bei seinen Worten erschrocken zusammen. „Du hast sie losgelassen! Du ..." Der Graf senkte seine Stimme. „Na schön, dann geht es jetzt eben auf die Jagd. Das ist sowieso interessanter." Mit funkelnden Augen trat er an Karlina heran. „Mach dich auf den Weg und finde unsere beiden nutzlosen Diener. Und dann werden wir das Mädchen jagen! Noch einmal lassen wir diesen Leckerbissen nicht laufen, hast du verstanden?!"
Karlina war in Gedanken versunken und antwortete nicht sofort.
„Hast du mich verstanden, Karlina?!", fuhr der Graf sie an.
„Ich ... nun ... ja, aber sicher, Onkel Karl. Was immer geschehen ist, es wird nicht wieder passieren, das verspreche ich. Ich bin eine Vampirin und heute Nacht trinken wir Blut ... richtiges Blut!" Dabei versuchte sie so überzeugend wie möglich zu klingen, doch war ihr seltsam unwohl dabei.
Liebevoll nahm der Graf seine Nichte in den Arm. „Du weißt doch, dass ich so lange auf einen Moment wie diesen gewartet habe, meine Liebe. Jetzt beeil dich, wir treffen uns unten im Keller. Ich werde die Treppe von hier nehmen, ihr drei kommt über die Küchentreppe. Wenn wir uns dem köstlichen Mädchen von verschiedenen Seiten nähern, hat sie keine Chance zu entkommen!"
Eilig verschwand der Graf und ließ seine Nichte alleine. Karlina schaute in den Kamin, durch den dieses seltsame Mädchen gerade verschwunden war.
„Komm schon, Karlina, du bist eine Vampirin!", sprach sie schließlich so entschlossen wie möglich und machte sich eiligen Schrittes auf die Suche nach den beiden Dienern des Grafen.
Bei diesen handelte es sich um den bemitleidenswerten Professor Horatio Frommage und seinen ebenso unglücklichen Assistenten Pierre Petit.
Vor über 150 Jahren waren sie in Frankreichs Hauptstadt Paris Vampirforscher gewesen. Gemeinsam mit der Frau des Professors verfolgten sie über Jahre hinweg jede Spur, die zu Vampiren führen könnte. Sie hatten viele Spuren verfolgt und waren weit gereist, jedoch stets ohne Erfolg.
Von einer der Reisen, die die Frau des Professors allein unternahm, war sie nicht zurückgekehrt. In ihrem letzten Brief hatte sie geschrieben, dass ihre Suche endlich von Erfolg gekrönt war und sie kurz davor sei, an bahnbrechende Informationen über Vampire zu gelangen. Danach hatte der Professor wochenlang keine Nachricht mehr erhalten. Voller Sorge war er ihr gemeinsam mit seinem Assistenten nachgereist und auf Schloss Rottstein gelandet.
Eines Nachts wurden die beiden in einem Moment der Unachtsamkeit schließlich vom Grafen mit seinem verbliebenen Zahn gebissen und so zu Halbvampiren gemacht. Der Graf besaß nur noch einen Vampirzahn, da ihm der andere angeblich bei einem Sturz viele Jahre zuvor herausgebrochen war.
Sein Biss führte nun dazu, dass der Professor und sein Assistent anschließend zwar blutleer, aber nur Halbvampire waren. Die zwei befanden sich seither in einer Art Schwebezustand zwischen Menschen- und Vampirwelt.
Schon zu Lebzeiten des Professors und seines Assistenten als Menschen war es in der Vampirwissenschaft seit Jahrhunderten umstritten, welche Eigenschaften aus beiden Welten Halbvampire innehaben. Es hieß, sie hätten keine Vampirzähne und könnten sich von menschlichem Essen oder Blut ernähren. Man sagte ihnen nach, dass sie nicht alterten und dass sie nur unter ähnlichen Umständen wie Vampire sterben würden. Und genau wie diese könnten sich Halbvampire tagsüber nicht ins Sonnenlicht begeben.
Dies bekam der alte Professor schmerzhaft zu spüren, als er am Tag nach dem nächtlichen Biss versuchte mit seinem Assistenten aus dem Schloss zu fliehen. Kaum hatte er die Eingangstür geöffnet, fiel ein Sonnenstrahl auf seinen rechten Fuß, was zu einer äußerst schmerzhaften Verbrennung führte. Natürlich hätten die beiden in der Nacht fliehen können, aber wie sollten sie ihr normales Leben als Halbvampire, die das Licht scheuen mussten, weiterführen? Doch noch etwas anderes hielt sie seither im Schloss: Das Wissen, dass Halbvampire unter besonderen Umständen den Weg zurück in ein menschliches Leben finden können. Dafür brauchten sie jedoch etwas, das ihnen nur der Graf geben konnte ...
Karlina machte sich also auf die Suche nach den beiden und fand sie schließlich in der Schlossbibliothek, wo sie seit Jahrzehnten nach einer geheimen und für den Grafen äußerst wichtigen Karte suchten.
Sie mochte den Professor und seinen Gehilfen sehr gerne. Ihre ständigen Zankereien fand sie eher amüsant, sie brachten etwas Abwechslung in ihr tristes Leben. Als Karlina den riesenhaften Raum betrat, standen sie auf großen Leitern und durchsuchten die Bücher in den oberen Regalen.
„Die gnädige Karlina!", rief der Professor, der das Vampirmädchen zuerst entdeckte.
Wie immer musste Karlina über die äußere Erscheinung der beiden Halbvampire schmunzeln. Der Professor mit seinem wirren, grauen Haar, das ihm in Büscheln vom Kopf abstand und das in so krassem Gegensatz zu seinem adretten, grauen Anzug stand.
Und daneben Pierre Petit mit seinem dichten, schwarzen Haar, das ihm immerzu in sein noch so jugendliches Gesicht fiel. Er trug leider einen völlig heruntergekommenen Anzug, bestehend aus einer braunen Hose und einem weinroten Jackett, unter dem ein Rüschenhemd mehr oder weniger hervorquoll. Dazu eine völlig unpassende grüne Fliege – eine Zusammenstellung, die Karlina jedes Mal an einen Buntspecht denken ließ.
So flink es ging kletterten diese lustig anzuschauenden Gestalten nun die Leitern hinab. Der Professor blieb schließlich vor Karlina stehen und machte eine tiefe Verbeugung. Neben ihm stand sein Assistent und grinste die junge Vampirin etwas dümmlich an.„Pierre, na los", fuhr in der Professor unwirsch an und stieß ihm seinen Ellenbogen in die Seite, „verneigen Sie sich, ungezogener Bengel!"
„Auuh!", fluchte der junge Assistent, sah den Professor etwas entrüstet an und verbeugte sich schnell.
„Lassen Sie nur", erwiderte Karlina, „ich habe Ihnen schon oft gesagt, dass Sie sich nicht vor mir verbeugen sollen. Wir sind doch Freunde!"
Der Professor richtete sich auf. „Selbstverständlich, gnädigste Karlina. Können wir irgendetwas für Sie tun?"
„Nun, der Graf schickt nach Ihnen. Heute Nacht hat sich ein Mensch, ein junges Mädchen, in unserem Schloss verlaufen. Wir hatten es schon fast gefangen, da habe ich ... nun, sie ist durch den Kamin entkommen. Wir sollen sie zusammen mit meinem Onkel im Keller finden und ... Sie wissen schon ..."
Die beiden Halbvampire warfen sich einen schnellen Blick zu. „Professor, ein Mensch, ein Kind zwar, aber ein Mensch, wir ...", begann Pierre.
„Pierre, dies ist wirklich nicht der richtige Augenblick!" Der Professor räusperte sich. „Nun denn, wenn das Fräulein Karlina unsere Hilfe braucht, dann werden wir ihr selbstverständlich helfen!"
„Aber Herr Professor, ich wollte ... auuuh!", schrie der Assistent erneut, als der Professor ihm einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienenbein gab.
Auf dem Weg zur Küche ging Karlina den beiden ein kleines Stück voraus. „Herr Professor, ein echtes Mädchen!", flüsterte Pierre dem Professor zu. „Aus Fleisch und Blut. Vielleicht können wir ja mit ihrer Hilfe ..."
„Abwarten, mein Lieber! Wir können nur hoffen, dass sich irgendwann eine Gelegenheit ergibt. Bis dahin müssen wir uns gedulden, verstanden?"
Pierre nickte und so setzten sie ihren Weg fort, um das Mädchen zu finden, das sich in diesem Moment in einer äußerst schwierigen Lage befand.
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasía„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...