Nachdem Karlina die Treppe hinab gelaufen war, grübelte Lena, was die letzte Geste ihrer Freundin zu bedeuten gehabt hatte.Sie sah durch das schmale Fenster ins Dachgebälk hinauf, doch zunächst fiel ihr nichts Ungewöhnliches auf.
Dann erblickte sie den Adler und erschrak. Der Professor hatte ihr zuvor schon von dem Traurigen Turm und dem Adler erzählt, doch auf diesen Anblick war sie nicht vorbereitet gewesen. Sie spürte tiefstes Mitleid für dieses stolze Tier.
Ihre Entschlossenheit bekam neuen Auftrieb und sie nahm sich fest vor, auch dem alten Adler am Ende dieser Nacht die Freiheit zurückzugeben.
Plötzlich stutzte sie.
Unten am Balken, auf dem der riesige Vogel saß, hing eine lose Kette, an deren Ende ein geöffnetes Schloss hing.
Der Adler war frei!
Warum aber saß er noch da? Sicher, er hatte kaum noch Federn am Leib, aber seine Flügel schienen noch intakt zu sein.
Wieder dachte Lena über Karlinas Geste nach, als sie hektisch auf den Adler gewiesen hatte. Was wollte sie ihr damit signalisieren? Es konnte nur etwas mit dem herabhängenden Schloss zu tun haben.
Dann fasste sie einen Entschluss und handelte.
Als sie die Tür öffnete, war von unten leises Gemurmel zu hören. Schlossen Karlina und ihr Onkel gerade Frieden? Und was bedeutete das für Lena? Nein, Karlina war auf ihrer Seite, da war sie sicher!
Vorsichtig stieg Lena in den Turm und schlich zu dem Holzbalken, auf dem der alte Vogel saß.Sie kletterte auf den Balken hinauf und sah nach unten.
Von dieser Position aus konnte sie sehen, wie die zwei Vampire unten auf der Treppe standen. Karl von Rottstein hatte seine Nichte liebevoll in die Arme geschlossen. Nur ein Blick nach oben und er hätte Lena augenblicklich entdeckt.
Der alte Vampir löste sich von seiner Nichte und stieg die Treppe hinab.
Geschwind bewegte sich Lena auf dem Balken vorwärts. Beim Adler angekommen griff sie nach unten, erreichte mit ihren Fingern die Kette und zog sie zu sich. Dann legte sie die Kette um den Fuß des Adlers und hakte das offene Schloss so ein, dass es von unten so aussehen musste, als wäre es fest verschlossen.
Gerade als sie damit fertig war, wurde es unten plötzlich laut, ein heftiger Streit entbrannte zwischen Karlina und dem Grafen. Im selben Moment wurde ihr schwarz vor Augen. Sie konnte nichts mehr sehen, irgendetwas kitzelte sie in der Nase...Lena spürte, dass der Adler sie unter einen seiner Flügel gezogen hatte, offenbar, um sie vor dem Blick des Grafen zu schützen.
Schließlich verstummte der Lärm und sie hörte, wie unten die Tür geschlossen wurde. Der Adler hob seinen Flügel an, Lena war wieder frei.Unsicher, wie sie reagieren sollte, deutete sie eine Verbeugung an und fügte ein leises „Danke!" hinzu. Eine Geste, die sie irgendwann in einer ähnlichen Situation in einem Abenteuerfilm gesehen hatte. Der Adler legte seinen Kopf schräg und schien über ihre Geste zu schmunzeln.
Von unten war ein lautes Schluchzen zu hören. Lena wendete sich vom Adler ab, Balancierte auf dem Balken zurück und sprang auf den Treppenabsatz.Nun, da der Graf verschwunden und die war, merkte sie, wie viel Kraft sie die bisherige Nacht gekostet hatte.
Und so ließ sie sich mit dem Rücken an der Steinwand des Turms hinab auf den Boden gleiten.
„Nur kurz ausruhen", dachte sie.
Weit entfernt erklang ein einsamer Hahnenschrei, der sie daran erinnerte, dass sie nicht mehr viel Zeit hatte. Sie öffnete die Augen.Über sich konnte sie das Dachfenster sehen und dahinter einen klaren Sternenhimmel.
In diesem Augenblick sehnte sie sich weit weg, irgendwohin, wo es warm und friedlich wäre. Die Möglichkeit hatte sie gehabt, als die beiden Halbvampire ihr einen Weg in die Freiheit angeboten hatten. Sie hatte abgelehnt.
Verrückt.
Aber die Freundschaft zu Karlina war ihr wichtiger gewesen. Und auch die Aussicht, den beiden Halbvampiren aus ihrer misslichen Lage helfen zu können, hatte sie dazu bewogen zu bleiben.Sie fühlte neue Kraft durch ihren Körper strömen. Gerade als sie aufstehen und nach Karlina sehen wollte, hörte sie Schritte die Treppe heraufkommen.
„Karlina? Alles okay bei dir?", fragte Lena. Beim Anblick von Karlina, die jetzt die Treppe herauf geschlurft kam, erschrak sie. Ihre Augen waren verquollen vom Weinen und sie ging fast so gebeugt wie ihr Onkel.
„Okay?! Nichts ist okay!" Karlinas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. „Oh, Lena, wenn ich könnte, würde ich am liebsten sterben. Meinen Onkel erkenne ich nicht mehr wieder und die kleine Lorraine, meine einzige Freundin bevor du hier erschienen bist, hat scheinbar die Tollwut bekommen. Und du, na ja, du bist ein Mensch, oder vielmehr eine Mahlzeit, wenn ich meinem Onkel und allen restlichen Vampiren der Welt glauben soll. Ich fühle mich so schrecklich allein!"
„Hey, Karlina, sieh mich an!" Lena erhob sich und baute sich vor Karlina auf. Mit glänzenden Tränen in den Augen blickte Karlina sie an.
„Sieh genau hin, okay?" Ein verschmitztes Grinsen erschien auf Lenas Gesicht. „Ich bin eine große Flasche voll mit leckerem Rot ... nein ... mit Blutwein! Du musst nur kräftig zubeißen, dann kannst du mich austrinken. Es ist ganz einfach. Schau her - hiiiier geht es rein!"
Lena legte zwei Finger auf ihren Hals. Mit schief gelegtem Kopf begann Karlina zu grinsen. Beide Arme in die Luft gereckt tat sie zaghaft, als würde sie Lena an die Gurgel gehen wollen. In gespieltem Entsetzen rannte Lena vor ihr weg.So ging die „Jagd" ein paar Runden um den Treppenabsatz und endete damit, dass sich die beiden Mädchen lachend in die Arme fielen.
„Schön, Karlina." Lena schaute ihre Freundin zufrieden an, „So gefällst du mir schon besser! Und jetzt hör zu. Erinnerst du dich, worüber wir in der Bibliothek gesprochen haben?"
Karlina dachte nach. „Aber ja", sagte sie. „Ihr habt darüber gesprochen, dass ihr das Tagebuch, in dem leider nichts Bedeutendes steht, gegen eure Freiheit eintauschen wollt. Wie hast du es gleich genannt? Baffen?"
„So in etwa. Leider hatten wir nicht genügend Zeit, dir den ganzen Plan zu erklären. Also, pass auf ..."
Und dann erzählte Lena Karlina, was sie vorhatten. Sie endete damit, dass im entscheidenden Moment der Professor damit drohen würde, das Tagebuch mit Hilfe einer Fackel zu verbrennen – wie es schon Sir Rigobert erfolglos versucht hatte.
„Der Plan ist riskant, Karlina, und ob alles so klappt, ist mehr als unsicher, doch es scheint der einzige Weg zu sein. Es sei denn ..." Lena machte eine Pause und suchte nach den richtigen Worten. „...es sei denn, wir hätten noch mehr wertvolle Informationen, zum Beispiel über die zweite Kartenhälfte. Irgendetwas, das dein Onkel uns nicht wegnehmen kann, verstehst du?"
Karlina hatte gespannt den Ausführungen Lenas gelauscht. Sie nickte gedankenversunken, sagte aber nichts. Also sprach Lena weiter.
„Karlina, ich bin mir sicher, dass das eigentliche Geheimnis um Eure Heimstatt mit der Erwähnung des Aquila zusammenhängt. Und auch dieses komische Holzstück mit den seltsamen Schriftzeichen spielt eine wichtige Rolle!" Lena holte das Stück Holz, das sie in Sir Rigoberts Tasche gefunden hatte hervor und hielt es Karlina hin.
Bei der Erwähnung des Wortes „Aquila" bewegte sich der Adler plötzlich hörbar auf seinem Balken und fixierte das Holzstück in Lenas Hand.
„Karlina! Was hat dieses Wort zu bedeuten?"
In Karlinas Gesicht zeigte sich eine große Traurigkeit, als sie zu sprechen begann.„Ich weiß nicht, was Sir Rigobert damit gemeint hat. Ich weiß auch nicht, was er vorhatte, ich habe keine Ahnung wozu dieses komische Holzstück gut ist, ich weiß gar nichts über diesen ... diesen Ritter. Mein Onkel hat mich nicht einmal mit ihm reden lassen, als er im Verließ gefangen war, obwohl ich es ..." Karlina stockte.
„Obwohl du es gerne getan hättest, Karlina?", half ihr Lena weiter.
Karlina antwortete nicht, doch Lena war sicher, ins Schwarze getroffen zu haben. Sie konnte ein leises Glucksen nicht unterdrücken und berührte Karlinas Hand vorsichtig mit ihrer eigenen. Dann wechselte sie schnell das Thema.
„Na schön, dann müssen wir uns eben auf unseren Plan verlassen und hoffen, dass wir alle gute Pokerspieler sind und überzeugend bluffen, was meinst du?"
„Lena, wir sollten das alles nicht auf die leichte Schulter nehmen", entgegnete Karlina. „Mein Onkel ist zwar alt, aber er ist gefährlich. Das allerschlimmste ist, dass ich dir nicht helfen kann, es sei denn du zauberst noch einen Ring aus deiner Tasche."
„Verflixt, hat er dich etwa wieder hier im Traurigen Turm festgenagelt?"
„Festgenagelt? Wieso sollte er mich festnageln?"
„Ich meine, hat er dich mit diesem blöden Ringzauber wieder hier eingesperrt?" formulierte Lena die Frage verständlicher.
„Oh ja, das hat er und zwar im doppelten Sinne. Er hat die Tür abgeschlossen und mir den Befehl gegeben, hier zu warten bis ... bis es etwas „Vernünftiges" zu essen gäbe, verstehst du?"
Lena seufzte. An die Aussicht, von dem alten Grafen ausgesaugt zu werden, hatte sie sich mittlerweile gewöhnt.
„Lena, die Tür kannst du vielleicht mit deinem kleinen Werkzeug öffnen", sagte Karlina. „Aber gegen seinen Befehl sind wir ohne den Ring des Professors machtlos, ich kann hier nicht raus!"
„Das würde ich so nicht sagen, Karlina!", ertönte urplötzlich eine tiefe Stimme. Erschrocken fuhren die beiden Mädchen herum.
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasy„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...