Ringtausch

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Es war stockfinster.

Das Versteck war gerade so hoch, dass die beiden Mädchen darin mit eingezogenen Köpfen hocken konnten. Zitternd vor Angst kauerte Karlina an der kalten Steinwand.

Lena spürte die Furcht ihrer Freundin. „Komm, Karlina, wir müssen los!", flüsterte sie und bewegte sich von der Luke weg.

„Ich kann nicht Lena, es geht nicht. Die Dunkelheit, ich ... du musst ohne mich gehen!"

Lena hielt an und krabbelte das kurze Stück zu dem Vampirmädchen zurück.

„Alleine? Schon wieder ohne dich auf der Flucht? Vergiss es, dann werden wir hier gemeinsam warten, bis ..."

Der Schmerzensschrei des Professors drang durch die geschlossene Decke zu ihnen herauf, als stünde er direkt neben ihnen. Lena schauderte.

„Lena, ich schäme mich so für meinen Onkel, es tut mir alles so unendlich leid!"

„Hör auf, Karlina. Ich hab's dir doch gesagt, Erwachsene sind manchmal einfach uncool, so altmodisch und dumm, da ist dein Onkel nicht der einzige, das kannst du mir glauben!"

Leise und abgehackt hörten die beiden, was in der Bibliothek gesprochen wurde.

Karlina legte sich auf den Boden ihres Verstecks und presste ein Ohr auf den Spalt zwischen Luke und Decke. Lena machte es ihr nach. Gespannt lauschten sie. ​​

_______
„Petit, wo sind Sie?!" Pierre eilte die Treppe der Bibliothek herab. Nun musste er sich zum zweiten Mal in dieser Nacht dem wütenden Grafen stellen.

„Ihr Kopf ist voller Staub, Petit!", fuhr ihn der Graf an. „Was haben Sie dort oben getrieben?"

Der Blick des alten Vampirs wanderte nach oben und blieb auf dem alten Wappen haften.

„Das Wappen!", sprach er weiter, „Ich habe mich schon oft gefragt ..." Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er die Decke der Bibliothek.

Der Professor schickte ein Stoßgebet Richtung Himmel, seinem Assistenten lief ein Schweißtropfen die Stirn hinab.

Dann machte der Graf einen Schritt in Richtung Treppe.

„Wenn mich meine Augen nicht trügen, rieselt dort oben Staub von der Decke herab. Petit, was geht da vor sich?!"

Lena betete in ihrem Versteck, dass der junge Assistent sie nicht verraten würde. Wenn das geschah und sie in diesem Loch entdeckt würden, war die Jagd vorbei. Der Graf würde ihr das Tagebuch abnehmen und was dann geschah, darüber machte sich Lena keine Illusionen.

Auf der Suche nach einem Ausweg blickte der Professor panisch um sich. Er zwang sich zur Ruhe und suchte seine Umgebung ab. An der großen Eingangstür stockte sein Blick.

„Das Mädchen ... sie hat uns überrascht und mit einer Art Schlüssel hier eingeschlossen. Anschließend ist sie geflohen, sie wollte wohl zurück in Sir Rigoberts Kammer", fielen ihm seine eigenen Worte wieder ein. Dann wanderte sein Blick nach oben zum Wappen und er hatte eine Idee ...

„Herr Graf, bitte lassen Sie mich erklären. Sie sehen doch, wie sehr mein Assistent leidet, wenn Eure Grafschaft sich zu sehr aufregen."

Der Graf drehte sich zum Professor um, der Ring an seiner Hand glänzte im Schein des Fackellichts. Langsam hob er die Hand und fixierte den alten Vampirforscher.

„Wie Sie meinen, Herr Professor. Reden Sie!"

Der Professor konzentrierte sich. Er spürte seinen eigenen Ring am richtigen Finger. Es fühlte sich so an, als würde er mit dem fremden Ring kämpfen.

Dann versuchte er einen möglichst leeren Gesichtsausdruck aufzusetzen und begann zu erzählen:

„Als Sie uns heraufschickten, um das Fräulein Lena zu finden, da fanden wir sie hier in der Bibliothek, zitternd und voll Angst. Sie suchte wohl einen Ausweg aus dem Schloss. Als sie unser gewahr wurde, erschrak sie fürchterlich, beruhigte sich aber, als wir ihr das Anliegen Eurer Grafschaft unterbreitet hatten." Fromage merkte einen brennenden Schmerz an seinem Finger anschwellen. Verbissen versuchte er weiterhin, selbstvergessen und abwesend dreinzuschauen.

„Im Anschluss erzählte sie uns vom Tagebuch des Sir Rigobert, das sie in einem Versteck gefunden hatte. Ich entsann mich Ihres Befehls und entschied, mit dem jungen Mädchen zusammen in der verborgenen Kammer dieses Tagebuches habhaft zu werden, um es Ihnen, verehrter Graf, zu bringen. Da ich Sie nicht im Unklaren über mein Vorgehen lassen wollte, schickte ich meinen Assistenten zu Ihnen, um Ihnen darüber zu beri - "

„Warten Sie, Herr Professor", unterbrach ihn der Graf. „Petit, erzählen Sie weiter. Was passierte, nachdem ich Sie wieder hier herauf geschickt hatte?"

Lenas Herzschlag setzte für einige Schläge aus. Das war's, jetzt ist es aus, ohne den Ring hat Pierre keine Chance!

Dem Professor blieb die Luft weg. Wenn ihm nicht schnellstens etwas einfallen würde, flog alles auf.

„Herr Graf, sehen Sie denn nicht, wie sehr Sie den armen Pierre quälen? Lassen Sie mich doch ..."

„Halten Sie den Mund, Herr Professor!" Bedrohlich wedelte der Graf mit dem Stock in Richtung des Professors, der augenblicklich einen stechenden Schmerz in seinem Fuß spürte und verstummte.

„So..!" Mit seinem stechenden Blick durchbohrte Karl von Rottstein Pierre. „Raus mit der Sprache, Petit, erzählen Sie, was geschehen ist!"

Mit seinen rasenden Kopfschmerzen bekam Pierre Petit keinen klaren Gedanken zustande.

Der Ring des Professors, Freiheit, Lena, das Tagebuch, alles vermischte sich in seinem Kopf zu einem undurchdringlichen Dickicht.

Die Hand mit dem Ring erhoben, trat der Graf auf ihn zu.

Auf der Suche nach einem Ausweg ratterten die Gedanken des Professors. Er tastete in der Tasche nach seinem Ring, zog ihn einer plötzlichen Eingebung folgend vom Finger und eilte energisch auf seinen Assistenten zu.

„Nun machen Sie schon, Pierre!", fuhr er ihn grob an. „Nehmen Sie sich einmal in Ihrem Leben zusammen!"

Ratlos sah Pierre Petit den Professor an, der inzwischen an ihn herangetreten war und ihn grob am Arm festhielt. Mit einer schnellen Bewegung ließ der Professor geschickt den Ring auf Pierres Finger gleiten.

Dann machte er eine überdeutliche Geste zur Decke:

„Erzählen Sie der erlauchten Grafschaft von dem Eingang zur geheimen Kammer Sir Rigoberts dort oben an der Decke, Sie wissen schon, die Platte mit dem Wappen darauf!"

„Herr Professor, das genügt!", unterbrach ihn der Graf und schob seinen Stock zwischen die beiden Halbvampire.

Der Professor bedachte seinen Assistenten mit einem eindringlichen Blick. Mehr konnte er nicht tun. Er hoffte, dass Pierre Petit verstanden hatte und seine Rolle ebenso gut spielen würde, wie bei seinem letzten Zusammentreffen mit dem Grafen.

Lenas Gedanken rasten. Sie mussten schnellstens verschwinden, falls Pierre jetzt alles verraten würde und der Idee des Professors - den Grafen von ihrem Versteck fernzuhalten - nicht folgen könne.

Sie öffnete das Tagebuch Sir Rigoberts und hielt es über den schmalen Spalt, durch den ein schwacher Lichtstreifen fiel. Nach kurzem Blättern fand sie, was sie suchte.


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Pierre Petit war in der Klemme. Der Ring des Professors befand sich zwar an seinem Finger, aber er hatte keine Ahnung, was er erzählen sollte.

Das letzte Gespräch mit dem Grafen in der Eingangshalle schoss ihm durch den Kopf. Sollte sein Erfolg dort nur ein glücklicher Zufall gewesen sein?

Nein!, dachte er entschieden. Los jetzt, Pierre, sein Puls begann zu rasen. Du schaffst es noch einmal!

Wie schon der Professor vor ihm setzte er einen möglichst entrückten Gesichtsausdruck auf und begann mit monotoner Stimme zu reden:

„Also, dort oben, wie der Professor schon sagte, befindet sich der mit Knoblauchpflanzen versperrte Eingang zu Sir Rigoberts geheimer Kammer und ..."

„Dort oben?", unterbrach ihn der Graf wirsch. „Ich sehe weder Knoblauch noch sonst irgendetwas, das den Eingang zur Kammer unsichtbar werden lässt. Erklären Sie das, Petit!"

Exzellente Frage, Herr Graf, ich habe keine Ahnung!, dachte Pierre und ein Anflug von Panik erfasste ihn. Warum sollte da oben der verborgene Eingang sein?! Hilfesuchend sah er zum Professor, der ihn mit stechenden Augen fixierte und im selben Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.

Dachkammer. Knoblauch.

Das würde den Grafen vom Versteck der beiden Mädchen fernhalten! Und dann sprudelten die Worte aus ihm heraus, dass dem Professor vor Staunen die Kinnlade herunterfiel.

„Nun, werter Herr Graf. Dort ist der Professor mit dem Mädchen hinaufgestiegen, nachdem er mich zu Ihnen geschickt hatte."

Vor lauter Eifer vergaß Pierre fast, gleichgültig dreinzublicken. „Als ich schließlich wieder zurück war, kamen die beiden gerade wieder aus der Kammer zurück. Das junge Fräulein hatte ein Buch unter dem Arm und außerdem ..." Er dachte kurz nach, ob er sich so weit aus dem Fenster lehnen sollte. Schließlich zuckte er nur mit den Schultern. Was soll's? Dachte er. Jetzt bin ich dran!

„...außerdem hatte sie noch etwas in der Hand", fuhr er fort, „etwas, das Sie sehr interessieren dürfte, Herr Graf..."

Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss RottsteinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt