Die unbekannten Gestalten hatten Lena fast erreicht.
Weiter, bitte geht einfach weiter! Lautlos formten ihre Lippen diese Worte, als das Geräusch der Schritte plötzlich verstummte.Lena hörte das Herz in ihrer Brust pochen.
Und dann vernahm sie Stimmen, die sie nicht kannte.
„Herr Professor, warten sie! Vielleicht ist das Mädchen ... quiiiieck ... verfluchter Ring ... jedenfalls ist sie ja vielleicht schon in der ... muuuuh! Verflixt und ..."
„Immer mit der Ruhe, mein lieber Pierre", antwortete eine andere Stimme. „Zuerst bekommt der Graf seine Mahlzeit, dann suchen wir das Mädchen. So hat er es befohlen und so müssen wir es auch tun. Wir dürfen nichts überstürzen, Sie wissen, wie ärgerlich der alte Blutsauger werden kann. Kommen Sie weiter!"
Die Antwort darauf war ein äußerst merkwürdiges „Määääh, Herr Professor."
Die Schritte entfernten sich und es wurde wieder mucksmäuschenstill. Vorsichtig lugte Lena in den Gang.Nichts.
Das mussten die beiden anderen Vampire gewesen sein, denen sie im Keller begegnet war! Aber was sollten diese Tierlaute? Die Geschichte wurde immer mysteriöser. Auf jeden Fall waren die zwei hinter ihr her.
Schnell öffnete sie die großen Flügeltüren mit ihrem Dietrich, betrat die Bibliothek und machte die Türen leise hinter sich zu.Lena sah sich um. Der riesige Raum wurde von mehreren Fackeln an den Wänden erhellt.
Hoch oben auf den Galerien befanden sich reihenweise Regale voll mit Büchern.
Hier unten befand sich eine Art Lesesaal, an dessen Wänden unzählige Gemälde hingen:Die Antlitze der gesamten Ahnenreihe derer von Rottstein aus den letzten 600 Jahren.
Wenn das keine Eitelkeit war!
Lena wanderte an den Gemälden vorbei.
Die Worte aus dem Tagebuch gingen ihr durch den Kopf:
„...schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen..."
Wie war das? Und von der „Macht des Aquila" war die Rede. Rätselhaft.
Irgendetwas musste der Vollmond auf den Gemälden sichtbar machen, was sonst nicht zu erkennen war, oder?Mit einem Mal erschien ihr die Idee zu banal. Die Macht des Aquila war von entscheidender Bedeutung, aber wie sollte sie herauskriegen, was ein „Aquila" war?
Leichte Panik ergriff Lena wieder. Wie sollte ausgerechnet sie etwas herausbekommen, wozu ein erfahrener Vampirforscher Wochen gebraucht hatte? Doch er hatte ihr einen entscheidenden Hinweis gegeben:
„Rufe nach der Macht des Aquila, das ist deine einzige Chance!"
Sollte sie es einfach versuchen und laut rufen? Nein, das war zu gefährlich. Von Ferne hörte sie die Kirchturmuhr dreimal läuten.Bis zum Morgengrauen würde es noch dauern.
Lena ging weiter.Nichts deutete auf irgendwelche Botschaften auf den Gemälden hin.
Sie untersuchte die Ränder, schaute hinter die Rahmen, tastete vorsichtig die Rückwände ab. Nichts. So kam sie nicht weiter. Irgendetwas musste sie übersehen haben.
Es half nichts. Sie würde noch mal zurück in die Dachkammer kehren müssen, um nach weiteren Spuren in dem Tagebuch zu suchen.Vielleicht gab es noch ein Buch? Im Hohlraum hatte sie es versäumt, nach weiteren Hinweisen zu suchen.
Na ja, beschwichtigte sie im selben Moment, auf dem Gebiet der Vampirforschung bin ich ja eher ‚blutige' Anfängerin ... Sie musste über ihr Wortspiel grinsen und das gab ihr neuen Mut.Entschlossen kehrte sie um, und gerade als sie die Bibliothekstür öffnen wollte, sprang diese plötzlich von selbst auf.
Der junge Vampir aus dem Keller stürzte derart schwungvoll herein, dass er wuchtig mit Lena zusammenprallte. Die beiden fielen zu Boden und lagen quer übereinander auf den Steinfliesen.
Nur Zentimeter befand sich das Gesicht des Vampirs vor Lenas entblößtem Hals. Sie schrie auf. Der Vampir öffnete seinen Mund und - schrie ebenfalls.Kein Biss, kein Blut, nur ein irgendwie tierisch klingender, langgezogener Schrei.
Wild zappelnd rappelte er sich auf und taumelte rückwärts in die Arme des älteren Vampirs.
„Na-na-na, mein lieber Pierre, beruhigen Sie sich. Es handelt sich doch nur um das junge Menschenkind, das wir finden und zum Grafen bringen sollen."
An Lena gerichtet fuhr er fort: „Entschuldigen Sie meinen jungen Assistenten, meine Liebe. In seinem Zustand ist er immer sehr schreckhaft. Darf ich Ihnen behilflich sein?"Er ließ seinen Assistenten los und hielt Lena seine rechte Hand hin, um ihr aufzuhelfen.
Lenas Augen waren schreckgeweitet. Auf dem Boden sitzend kroch sie rückwärts bis zur Wand.
„Aber ... Sie sind Vamp ... Sie wollen mein ... Sie ....", stammelte sie unbeholfen.
Beschwichtigend hob der alte Herr seine Hände: „Oh, natürlich, Sie müssen uns für zwei von denen halten, das hatte ich nicht bedacht. Entschuldigen Sie. Dass wir beide, nun, etwas anders sind, können Sie schließlich nicht wissen. Wie soll ich Ihnen das erklären? Wir sind sozusagen ..."
„... Halbvampire!", unterbrach ihn sein junger Assistent, der sich wieder beruhigt hatte und Lena interessiert ansah. „Wir sind Halbvampire. Ein bisschen wie die da unten", er wies mit einer Hand zur Tür, „und ein bisschen wie Sie!" Dann grinste er und entblößte dabei seine Zähne.
Keine Vampirzähne, stellte Lena erleichtert fest und entspannte sich ein wenig.
Der ältere der beiden sprach jetzt wieder: „Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Horatio Frommage, Professor für Geschichte und Mythologie aus dem wunderschönen Paris. Das war es jedenfalls, als wir es vor über 150 Jahren verlassen haben. Und der hier...", er wies auf seinen jungen Assistenten, der Lena immer noch fasziniert anstarrte, „...ist mein liebenswerter, wenn auch manchmal etwas unbeholfener Assistent Pierre Petit."Deutlich lauter setzte er hinzu: „Seine Manieren sind leider mindestens so verstaubt wie das alte Schloss hier!" Er stieß seinem Assistenten den Ellenbogen in die Seite, worauf dieser mit einem schmerzhaften Aufschrei den gebannten Blick von Lena abwendete.
Lena blieb skeptisch, konnte sich aber ein leichtes Grinsen nicht verkneifen.„Halbvampire? Was bedeutet das? Sie haben dem Grafen unten im Keller geholfen! Woher soll ich wissen, dass das nicht alles nur ein Trick ist und Sie mich nicht dem blutrünstigen, alten Greis ausliefern wollen?"
„Sie haben ganz Recht, junges Fräulein", sprach der Professor ruhig, „in Ihrer Situation ist Skepsis mehr als angebracht, doch ich möchte Ihnen versichern, dass wir Ihre Hilfe ebenso sehr brauchen, wie Sie die unsere. Um Ihnen das ein wenig glaubhafter zu machen, schlage ich Ihnen etwas vor: Wir erzählen Ihnen unsere Geschichte und anschließend entscheiden Sie dann selbst, ob Sie uns vertrauen können oder nicht. Einverstanden?"
In ihrer verzweifelten Lage kam Lena zu dem Schluss, dass sie die zweite Kartenhälfte alleine wohl kaum finden würde. Und von Karlina war erstmal keine Hilfe zu erwarten, vermutlich hatte ihr Onkel sie irgendwo eingesperrt.Sie beschloss, den beiden fürs erste zu vertrauen und sie ihre Geschichte erzählen zu lassen.
„Also gut, in Ordnung", sagte sie mit fester Stimme, „erzählen Sie ihre Geschichte. Und dann sehen wir weiter."
DU LIEST GERADE
Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasy„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...