Pierre hatte versucht, möglichst langsam und ungeschickt die Leiter zu holen, sie an das Bücherregal zu stellen und nach oben zu dem Buch zu klettern, das den Mechanismus zur Öffnung der Luke auslöste. Falls das überhaupt möglich war, wollte er den zwei Mädchen möglichst viel Zeit geben, um zu verschwinden.Er zog das einsam stehende Buch nach hinten. Mit einem leisen Geräusch öffnete sich die Luke und die Leiter glitt herab.
Mit der brennenden Fackel in der Hand sah der Graf zur Luke hinauf.
Stille.
Langsam, Stufe für Stufe, begann er, die Leiter nach oben zu erklimmen. Seine Finger legten sich lang und knöchrig um die Leiter. Pierre verfolgte gebannt das Geschehen.Unten stand der Professor vor der Eingangstür zur Bibliothek. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete er, wie erst die Fackel und dann der Kopf des Grafen im Versteck der Mädchen verschwanden.
Lena sah den Fackelschein und betete, dass der Knoblauch auf den Grafen dieselbe Wirkung haben möge wie auf seine Nichte.
Es war mucksmäuschenstill. Lena spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.
Schließlich erschien das Gesicht des Grafen in der Öffnung. Suchend wanderte sein Blick umher und stockte, als seine Augen scheinbar genau auf Lena gerichtet waren.Lena starrte gebannt zurück.
Die Augen des alten Vampirs schienen sie genauestens zu taxieren. Doch die nun folgende Reaktion bestätigte die Knoblauchtheorie des Professors.
Der Graf verzog das Gesicht und presste sich voller Abscheu den Umhang vor die Nase. Blitzschnell kletterte er wieder die Treppe hinab, bedeutete Pierre mit hektischen Bewegungen die Luke zu schließen, drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand nach unten.
Pierre konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Als er den Grafen außer Hörweite glaubte, sah er zur Luke herauf und flüsterte leise: „Viel Glück, ihr zwei!"
Dann schob er das Buch ins Regal zurück. Lautlos glitt die Leiter nach oben und die Falltür klappte zu. Pierre kletterte die Leiter hinunter und beeilte sich, dem Grafen zu folgen.Lena atmete tief durch. Für den Moment waren sie in Sicherheit, doch was jetzt? Karlina lag immer noch neben ihr und fing nun an, leise zu schnarchen. Mit etwas Dreck und Steinstaub vom Boden rieb sie ihre Hände aneinander, um den fürchterlichen Knoblauchgestank loszuwerden. Dann legte sie sich flach auf den Boden und lauschte, was unten in der Bibliothek gesprochen wurde.
„Sie jämmerlicher Nichtsnutz!", herrschte der Graf den armen Pierre an. „O ja, Sie haben ganz Recht, das werden Sie wieder ausbügeln, Petit. Sie werden dafür Sorge tragen, dass das Mädchen wieder auftaucht. Und sollten Sie wieder versagen, dann werden Sie und der Professor bei Tagesanbruch - gefesselt an das östlichste Fenster im Traurigen Turm - einen kurzen und schmerzhaften Sonnenaufgang erleben. Haben Sie verstanden, junger Freund?!"
Pierre Petit hatte sein Pulver verschossen. Hilflos schaute er zum Professor, dessen Gesichtsausdruck Pierre neu war. Respekt und Anerkennung lagen darin.
Unruhig lief der Graf auf und ab. Pierre konnte die Augen nicht vom Professor lösen, es war, als würde der alte Mann ihm etwas mitteilen wollen.Fromage starrte abwechselnd in Pierres Gesicht und auf seine Hand. Dazwischen rollte er ungeduldig mit den Augen. Endlich blickte Pierre nach unten auf seine Hand und sah – den Ring!
Er zog ihn vom Finger und bewegte sich langsam auf den Professor zu und ließ den Ring im Schutze seiner Silhouette in den Schoß des Professors fallen, der ihn sofort auf den Finger streifte und die Hand in seiner Hosentasche verschwinden ließ.
Der Graf, in Gedanken versunken, hatte von dem Manöver nichts bemerkt.„Hören Sie mir zu!", sprach er schließlich. „Diese kleine weiße Ratte, die immer hinter Ihnen her rennt und mit der meine Nichte so gerne herumspielt. Sie wissen schon, die mit dem schwarzen Punkt zwischen den Augen. Sie hat in der Bibliothek meinen Lorrox angegriffen. Bevor ich eingreifen konnte, fielen Sie durch den Kaminrost in den Keller. Seither sind beide Ratten verschwunden! Sprechen Sie, Herr Professor!" Die Tatsache, dass er die weiße Ratte in seiner Tasche hatte, behielt der Graf für sich.
„Sie meinen Lorraine?", fragte der Professor besorgt. Die kleine Ratte war ihm in all den Jahren ans Herz gewachsen.„Die haben wir schon seit Tagen nicht mehr gesehen. Ebenso wie Ihren treuen Lorrox, Herr Graf."
Horatio Fromage war heilfroh, dass er den Ring am Finger trug. „Hat er Ihnen denn noch wichtige Nachrichten von der Flucht des Mädchens überbringen können?" Er biss sich auf die Zunge und ballte die Fäuste. Auf keinen Fall durfte er den Eindruck erwecken, über irgendetwas Bescheid zu wissen, was die Pläne des Grafen gefährden könnte.
Misstrauisch sah der Graf ihn an. Der Professor versuchte dem bohrenden Blick des Grafen auszuweichen.Dabei fiel sein Blick auf den Lesetisch und die Zigarrenkiste mit dem von der schwarzen Ratte hinein gebissenen Loch.
Du liebe Güte, dachte er erschrocken, bricht jetzt alles zusammen? Unter keinen Umständen durfte der Graf die Zigarrenkiste entdecken!
"Was für eine Nachricht hätte das sein können, Herr Professor?" Der Graf beugte sich dicht über ihn, so dass dem Professor sein wie vermodert riechender Atem in die Nase stieg.
"Ich weiß nicht, was Sie meinen, Herr Graf. Ich fragte mich nur, ob Ihre treue Ratte vielleicht etwas bemerkt hat, was uns entgangen sein könnte. Vielleicht wäre es eine gute Idee nach ihr zu suchen, meinen Sie nicht? Wir könnten Ihnen bei der Suche im Keller behilflich sein." Der Professor wies auf die Eingangstür der Bibliothek - weg von der Zigarrenkiste!
Mit einer Handbewegung bedeutete der Graf dem Professor ihm zu folgen."Kommen Sie! Wir werden meiner treulosen Nichte einen Besuch abstatten. Sie wird mir einiges über das seltsame Angriffsverhalten ihrer Ratte erklären müssen."
Erleichtert folgte der Professor dem Grafen, der die Zigarrenkiste nicht bemerkt hatte.
An der Tür angekommen drehte sich Karl von Rottstein zu Pierre um, der den beiden nach draußen folgen wollte.
„Petit!", fuhr er den jungen Assistenten an. „Sie suchen das Mädchen! Wie Sie das anstellen, ist Ihre Sache, doch Sie werden mir dieses Menschenkind nach unten bringen. Falls sie glauben sollte, der kommende Tag würde sie retten, dann richten Sie ihr aus, dass an diesem Tag zwei armselige Halbvampire im Traurigen Turm in der Sonne geschmort werden, verstanden?"
Pierre zuckte zusammen, während der Professor schon die neue Situation überdachte. Karlina war nicht im Traurigen Turm, sondern kauerte mit Lena dort oben in dem dunklen Versteck. Sie musste dringend zurück in den Turm! Dem Professor fiel die Gängekarte ein. Gab es einen Gang dorthin? Es wäre möglich und er traute Lena zu, diesen Weg zu finden. Das einzige, was er jetzt tun konnte, war, den Mädchen ihre Lage irgendwie deutlich zu machen.
"Herr Graf, Sie wollen zu Karlina in den Traurigen Turm?", fragte er den Grafen möglichst laut. „Haben Sie bedacht, was geschieht, wenn sich das junge Fräulein in der Zeit über den Fluchtweg Sir Rigoberts in die Eingangshalle begibt und von dort mit ihrem Werkzeug flieht? Vielleicht sollten Sie lieber dort Wache halten, während ich mit Ihrer Nichte spreche?"
Die Gefahr, dass Lena über den genannten Weg fliehen könnte, entbehrte nicht einer gewissen Logik.
„Sie haben recht, Herr Professor", sagte der Graf. „Wir werden jedoch anders vorgehen. Sie werden auf nach unten gehen und dafür sorgen, dass das Mädchen nicht fliehen kann. Ich selber werde mich in den Traurigen Turm begeben, haben Sie verstanden?"
Der Professor nickte. Er konnte nur hoffen, dass die Mädchen alles mitbekommen hatten. Dann eilte der Graf gefolgt vom Professor hinaus.
Stille senkte sich über die Bibliothek. Alleine in der großen Bibliothek starrte Pierre auf die Eingangstür, hinter der die Schritte Karl von Rottsteins und des Professors langsam verhallten.Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
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Jagd auf Lena - Eine Nacht auf Schloss Rottstein
Fantasy„Bist du auf der Suche nach der Wahrheit, so erhebe Dich über die Eitelkeit derer von Rottstein. Der Weg ist nicht leicht. Nutze die Macht des Aquila und schaue beim Licht des Vollmondes auf das Antlitz der Adligen." Lena ist ein Mädchen aus dem Hie...